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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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Anbetracht des Freiraums, den ihm seine herausragende Stellung unter seinesgleichen bescherte, als schwer verdaulich erweisen. Wenn die Leichen der sieben Bullen und die Köpfe der beiden Pinkerton-Leute nicht am nächsten Morgen noch dagelegen hätten, so daß alle sie bei Tageslicht sehen konnten, dann hätten sie Denver Bob ins Gesicht hinein für verrückt erklärt.
    »Der Chinamann bewegte sich, als wäre er aus Flüssigkeit und nicht aus festem Fleisch«, pflegte Denver Bob nach einer Weile zu berichten, aber das waren nur blasse Worte, die seiner Erinnerung kaum gerecht wurden. Selbst als es geschah, konnte er kaum einen Sinn in das bringen, was seine Augen ihm da meldeten.
    Kanazuchi ging ruhig und mit fließender Anmut davon, wie ein Mann, der im Park spazierengeht. Alle anderen Körper machten eckige und hektische Bewegungen – Männer auf der einen oder anderen Seite eines bösartigen Überfalls. Nur durch den Kontrast fiel die Gestalt, die sich zwischen ihnen dahinbewegte, überhaupt auf. Bahnbullen erblickten den Mann erst, wenn er an ihnen vorbeiging; holten aus, um mit dem Knüppel nach ihm zu schlagen. Sie lagen am Boden, noch bevor sie diese Bewegung zu Ende gebracht hatten, die Knochen wie Reisig gebrochen, die Gesichter zertrümmert. Arme und Beine des Chinamanns schienen in schwerelosen Bahnen hinauszuwirbeln und im Kreis zu ihm zurückzukehren; einmal sah es sogar aus, als schwebe er in der Luft. Als er am Rande des Rangierplatzes angekommen war und die beiden Pinkertons ihm mit gezücktem Revolver entgegentraten, hatten die übrigen Bullen endlich begriffen, daß in ihrer Mitte etwas Katastrophales im Gange war.
    Da zog der Chinamann in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung das Schwert aus der Scheide an seinem Hosenbein, schwang es in einer zweifachen Schleife – man erkannte Feuerreflexe auf den Schneiden –, und die Köpfe der Pinkerton-Männer fielen herunter wie reife Melonen.
    Der Chinamann rannte. Er war ein verschwommener Schatten. Er war verschwunden.
    Als die Bullen das Gemetzel in seinem Kielwasser gewahr wurden, entwich die Kampflust aus ihnen wie Wasser aus einem geplatzten Schlauch. Wahrend sie anfingen, sich um ihre Toten zu kümmern, stolperten die Hobos, die noch dazu in der Lage waren, in die Nacht hinaus und zerstreuten sich wie Schrapnell, und mit sich nahmen sie ihre Bündel und kleine Bruchstücke des Alptraums, dessen Zeugen sie geworden waren. Und es war Denver Bob, der in der Zeit danach am meisten darüber redete: In der Welt der Eisenbahntramps ist es vor allem ihm zu verdanken, daß die Geschichte von denn Mann mit dem Schwert, der das Camp in Yuma gerettet hatte, ins Reich der Legenden einging.
    Im Morgengrauen des nächsten Tages, war – eine eher praktische Konsequenz – die Jagd nach dem mörderischen Chinamann bereits in vollem Gange.
     
     
    NEW YORK CITY
    Gleißende elektrische Lichtreklamen erleuchteten den ganzen Abschnitt des Boulevards und offenbarten einen Straßenkarneval von Menschenmassen, die sich vor Theatern und Schnapskneipen drängten, vor Panoptiken und besonders vor der allerneuesten Sensation in der Stadt, den Fünf-Cent-Kinetoskop-Sälen, die den Broadway zu beiden Seiten säumten. Fliegende Händler verhökerten ganze Warenlager von billigem Kram – Spielzeug, Schuhe, Scheren, Hosenträger, Töpfe und Pfannen. Messerschleifer ließen Funken von ihren Schleifsteinen sprühen, Lumpensammler die Glocken an ihren Karren klingeln. Flaneure labten sich an Bratäpfeln, heißen, knusprigen Brötchen und gedämpften Muscheln, die auf der Straße feilgeboten wurden. Bezaubernde junge Mädchen verkauften heiße Maiskolben – eine Attraktion, die Innes mit untrüglichem Instinkt in dem Gewirr aufspürte. Einige der Händler bliesen Trompete, um ihre Ware anzupreisen, andere trugen ›Sandwichplakate‹ mit großen Lettern, aber die meisten verließen sich auf ihre Stimmen: Scharfe, endlos wiederholte Refrains gellten durch das Getöse.
    Die Fahrer der elektrischen Straßenbahnen pflügten sich durch den dichten Kutschenverkehr und bedienten unablässig ihre Signalhörner, wobei sie die schreckhaften Pferde, die sich noch nicht an ihre Anwesenheit gewöhnt hatten, langsam beiseite schoben. Doppeldecker-Omnibusse schaukelten Touristen auf der Suche nach einem Nervenkitzel durch das Straßengewirr der Midtown; die holprige Fahrt ließ alle paar Schritte neue Sensationen in Sicht kommen. Bohemiens mit Baskenmützen und grellen Halstüchern.

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