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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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Glücksritter und Gauner, die das nächste große Spiel witterten. Städtische Ganoven, die in quergestreiften Pullovern und weichen Gangstermützen die Runde machten. Gestriegelte Stutzer in karierten Anzügen mit perlgrauen Derbyhüten und dazu passenden Gamaschen flanierten vorbei, ein Püppchen am Arm. Straßenmädchen, von Gin oder Bier beschwipst, torkelten zwischen zwei Jobs umher, um wieder nüchtern zu werden. Irische Cops gingen Streife und ließen ihre Schlagstöcke vom Pflaster hochschnellen. Eine Heilsarmee-Kapelle schlug die Trommel und warf die Netze nach Streunern aus, die sich rekrutieren ließen. Zuhälter, Säufer, Zeitungsjungen, Gaukler, Ausreißer und chinesische Zigarrenverkäufer.
    »Kannst du dir das vorstellen, Arthur?« sagte Innes.
    »Zehn Uhr abends, und die Straßen derart voller Leben? Beim Zeus, hat man so etwas schon mal gesehen?«
    Doyle sah, wie Innes die Parade beäugte, und die Brust schwoll ihm in beschützerischer Zuneigung ob so viel Überschwangs und nie in Versuchung geführter Unschuld. Bestand die Gefahr, daß er diese Eigenschaften korrumpierte, wenn er ihn weiter auf diesem Weg hinunterführte, den er jetzt eingeschlagen hatte? Er hatte Jack Sparks und das, was sie zusammen durchgemacht hatten, Innes gegenüber nie mit einem Wort erwähnt, nicht einmal, nachdem er Jack auf dem Schiff wiedergetroffen hatte. Innes fing sein Leben erst an; war es recht, ihn Gefahren von der Art auszusetzen, wie Jack sie routinemäßig herausforderte? Und in Anbetracht der Verantwortung sowohl für seine Frau und seine Familie als auch seinen beruflichen Verpflichtungen gegenüber fragte Doyle sich schließlich, ob er selbst eigentlich das Recht hatte, auf so gefährlichen Pfaden zu wandeln.
    Er sah zu Sparks hinauf, der über ihnen auf dem Kutschbock saß, anonym und kalt. Während er ihnen einen Weg durch den Verkehr suchte, betrachtete Doyle sein Gesicht. Vor zehn Jahren hatte er ernstliche Vorbehalte im Hinblick auf Jacks Geisteszustand gehegt, auf seine Obsessionen, die dunklen Stimmungsschwankungen, seinen heimlichen Appetit auf Drogen. Da er nicht wußte, welcher Art das Grauen war, das sein ehemaliger Freund inzwischen durchlebt hatte, war es durchaus möglich, daß der Mann inzwischen völlig von Sinnen war. Konnte man ihm trauen?
    »Das kann doch nicht der kürzeste Weg zum Hotel sein, oder, Arthur?« fragte Innes, ohne daß es ihn gestört hätte.
    Es war noch nicht zu spät, den Wagenschlag aufzureißen und Innes hinauszubefördern, weg von Jack Sparks und allem, wofür er stand. Doyle sah die Hände seiner Frau vor sich, friedlich gefaltet auf ihrem Schoß. Und ohne rationalen Grund kam ihm das Gesicht einer anderen Frau in den Sinn: die Schauspielerin Eileen Temple. Es mußte an den Lichtern der Theater hier am Broadway liegen; wahrscheinlich hatten sie die Erinnerung heraufbeschworen. Er wußte, sie war in diese Stadt gekommen, nachdem sie ihn am Ende ihrer kurzen Liebesaffäre hatte sitzenlassen, um hier Karriere zu machen und ihr Glück zu suchen. Ihre schwarze, irische Schönheit und die flüchtige Zeit ihres Beisammenseins spukten seitdem in seiner Erinnerung herum. Am meisten wünschen wir uns, was wir niemals haben können, dachte Doyle. War sie vielleicht heute abend hier draußen, ganz in der Nähe, auf einer der Bühnen in den Theatern, an denen sie vorbeikamen, oder ging sie gar in diesem Augenblick durch die Menschenmenge, die sie umgab? Sein Blick wanderte über die Gesichter, und halb hoffte er, sie zu finden. Nach so vielen Jahren des intimen Zusammenlebens mit seiner Frau kam ihm der Gedanke an ein Wiedersehen mit Eileen jetzt fremd vor, sträflich und erregend zugleich. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wer er eigentlich gewesen war, als sie sich begegnet waren. Würde er sie nach all der Zeit überhaupt noch wiedererkennen?
    Ja. Er würde sich an ihr Gesicht immer erinnern, solange er lebte.
    Eine dritte Gestalt erschien vor seinem geistigen Auge. Königin Victoria. Stolz. Altertümlich. Ungemein liebenswert. Das bindende Wort, das er ihr gegeben hatte, hallte ihm durch den Sinn: Er stand ihrem Befehl zur Verfügung, wann immer sie es verlangte. Sie hatte dieses Privileg nie mißbraucht. Und er erinnerte sich an ihren unerschütterlichen Glauben an Jack Sparks, ihren Geheimagenten, der ihr größtes Vertrauen genoß, den Mann, der so tapfer an seiner Seite gekämpft hatte. Den Mann, der ihm ein solcher Freund gewesen war.
    Das war es: die Wurzel seines

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