Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
behaupten sogar, Arbeiter und Bauern zu lieben wie ihre eigenen Kinder. Manchmal komme ich mir wirklich vor wie einer dieser Bauern.«
»Ich dachte, du hättest deinen Minister gern«, sagte Nomuri. »Was wollte er?«
»Wie meinst du das?«
»Heute Abend. Er hat dich doch noch aufgehalten«, präzisierte er und winkte grinsend mit dem Laken.
»Ach, es ging nur um ein Gespräch, das er mit einem Kollegen geführt hat. Er lässt mich fleißig über alles Buch führen für den Fall, dass der Ministerpräsident auf den Gedanken kommen sollte, ihn vor die Tür zu setzen. Die Tagebücher sind seine Rückversicherung. Damit könnte er sich seinen Peers gegenüber rechtfertigen. Fang würde es nämlich nicht ertragen, wenn man ihm seine Residenz und seine Privilegien abnähme. Also macht er ständig und von allem Notizen, die ich als seine Sekretärin dann ins Reine schreiben muss. Das dauert manchmal ewig.«
»Du schreibst in den Computer, oder?«
»Ja, in den neuen, der dank deiner Software wunderschöne Mandarin-Ideogramme darstellt.«
»Bleiben all diese Texte im Computer gespeichert?«
»Ja, auf der Festplatte. Aber natürlich verschlüsselt«, sagte sie in beruhigendem Ton. »Das haben wir von den Amerikanern gelernt beziehungsweise kopiert. Es nennt sich ›robust encryption system‹, was immer das zu bedeuten hat. Ich wähle eine Datei, die ich öffnen möchte, tippe den Decodierschlüssel ein und schon öffnet sich die Datei. Soll ich dir verraten, welchen Schlüssel ich verwende?« Sie kicherte. »YELLOW SUBMARINE. Er ist englisch, wegen der Tastatur, die noch die alte ist, und der Titel eines Beatles-Songs, den ich mal im Radio gehört habe. ›We all live in a yellow submarine‹ … so ungefähr. Ich habe damals, als ich Englisch studierte, viel Radio gehört, und ich weiß noch, wie ich über eine halbe Stunde lang zuerst im Wörterbuch und dann in einer Enzyklopädie nachgeschlagen habe, um herauszufinden, was ein gelb angestrichenes Unterseeboot zu bedeuten haben könnte. Ahh!« Ihre Hände erhoben sich wedelnd in die Luft.
Der Schlüssel! Nomuri versuchte, sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen. »Da wird eine Menge an Dateien zusammengekommen sein, nicht wahr? Du bist ja schon lange seine Sekretärin«, sagte er beiläufig.
»Über 400 Dokumente. Statt jedem einzelnen einen Namen zu geben, habe ich sie alle durchnummeriert. Das von heute war genau das 487ste.«
Ach, du Scheiße , dachte Nomuri, 487 Computerdokumente über Politbüro-Interna. Dagegen machte sich eine Goldmine aus wie eine Sondermüllhalde .
»Worüber reden die eigentlich so? Ich habe noch nie einen höheren Funktionär kennen gelernt.«
»Über alles Mögliche«, antwortete Ming und drückte ihre Zigarette aus. »Wer im Politbüro welche Ideen hat, wer den Amerikanern gegenüber einen freundlicheren Kurs einschlagen will, wer ihnen lieber auf die Füße tritt … alles, was man sich so vorstellen kann. Verteidigungspolitik. Wirtschaftspolitik. Ganz oben steht zurzeit die Frage, wie mit Hongkong verfahren werden soll. Das Konzept ›Ein Land, zwei Systeme‹ hat Probleme mit einigen Industriebossen in Peking und Schanghai aufgeworfen. Die fühlen sich zurückgesetzt, vor allem was ihr Honorar angeht – in Hongkong würden sie viel mehr verdienen –, und das macht böses Blut. Fang bemüht sich um einen Kompromiss, um sie zufrieden zu stellen. Er ist sehr clever in solchen Dingen.«
»Es muss faszinierend sein, Einblick in so viele Informationen zu bekommen, wirklich zu wissen, was im Land so alles vor sich geht«, schwärmte Nomuri. »Ich habe überhaupt keine Ahnung von dem, was bei uns in Japan die zaibatsu oder die Leute vom Industrie- und Handelsministerium aushecken. Wahrscheinlich versuchen sie, die Wirtschaft zu ruinieren, diese Esel. Aber weil niemand Bescheid weiß, können sie weiterhin ungestört herumwursteln. Ist das bei euch auch so?«
»Natürlich!« Ming zündete sich wieder eine Zigarette an. Angeregt von der Unterhaltung, merkte sie offenbar nicht, dass es nicht mehr um das Thema Liebe ging. »Ich habe früher auch meinen Marx und meinen Mao studiert und an sie geglaubt. Ich habe sogar daran geglaubt, dass unsere Minister ausnahmslos ehrenwerte und integere Männer sind. Wirklich, alles, was mir in der Schule beigebracht wurde, war für mich über alle Zweifel erhaben. Aber dann musste ich erfahren, dass das Militär seine eigene Industrie unterhält und dass ihre Generäle reich und fett und
Weitere Kostenlose Bücher