Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
besonders groß oder dick, aber die Ohren standen munter von seinem kugelrunden Kopf mit der schwarzen Stoppelfrisur ab, und die Augen hinter den kleinen runden Brillengläsern schienen noch nie etwas vom Leid dieser Welt gesehen zu haben. Was nicht stimmte, denn er war ein ungeheuer fähiger Politiker. Bis zum letzten Freitag war er Staatssekretär im Büro der Ministerpräsidentin gewesen. Und er war ein guter Freund von Cecilie. Er stammte aus Kvinnherad, von einem Bauernhof, in dessen Nachbarschaft Cecilies Eltern ihr Ferienhaus hatten. Hanne Wilhelmsens Lebensgefährtin hatte Øyvind und dessen Schwester Agnes, die Sommerbekanntschaften aus ihrer Kindheit, in ihr Erwachsenenleben mitgenommen. Hanne Wilhelmsen dagegen hatte keinerlei Kontakt zu ihrer Kindheit. Der Tag, an dem sie und Cecilie zusammengezogen waren, markierte in ihrem Leben eine klare Grenze. Und dieser Tag lag sehr, sehr lange zurück. Als Ersatz für ihre eigenen Freunde durfte sie Cecilies teilen.
»Was wirst du jetzt machen?«
Er antwortete nicht sofort, sondern starrte sein Bierglas an und drehte es immer wieder um die eigene Achse. Dann fuhr er sich über den Kopf und lächelte.
»Weiß der Geier. Wieder in die Parteizentrale gehen, nehme ich an. Aber erstmal … erstmal mache ich Urlaub.«
»Das hast du dir sicher verdient. Wie war das letzte halbe Jahr eigentlich?«
Ehe er anworten konnte, strahlte sie ihn an.
»Fahr doch einfach zu Cecilie! Kalifornien ist wunderbar zu dieser Jahreszeit. Wir haben viel Platz, und der Strand ist nur fünf Minuten entfernt.«
»Ich werd’s mir überlegen. Vielleicht kommt es ungelegen. Für Cecilie, meine ich.«
»Natürlich kommt es nicht ungelegen. Sie würde sich sehr freuen. Alle versprechen, uns zu besuchen, aber niemand kommt.«
Er lächelte, ließ das Thema aber fallen.
»Es war das turbulenteste halbe Jahr in meinem ganzen bisherigen Leben. Alles, was schieflaufen konnte, ist ja auch schiefgelaufen. Aber …«
Wieder fuhr er sich durch die Haare, diese Verlegenheitsgeste war typisch für ihn.
»Es war aber auch spannend. Es hat uns zusammengeschweißt. Ob du’s glaubst oder nicht, aber die vielen Anpfiffe haben Birgitte nichts anhaben können. Sie hat uns zusammengehalten. Uns gegen die anderen gewissermaßen. Die Verantwortungsvollen gegen die Leichtfertigen.«
Ein hochgewachsener dunkler Mann brachte das Essen. Das feuerrote Hähnchen dampfte und duftete vor ihnen, und Hanne Wilhelmsen merkte, daß sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie nahm sich ein Stück Fladenbrot und sprach mit vollem Mund.
»Wie war Birgitte Volter? Als Mensch, meine ich? Du hast doch viele Jahre mit ihr zusammengearbeitet, oder?«
»Mmm.«
Øyvind Olve war ein bedächtiger Mann aus Westnorwegen. Er hatte sich durch seine proletarische Herkunft, durch ehrliche Arbeit und durch seine Fähigkeit, im richtigen Moment die Klappe zu halten, in der Partei nach oben gearbeitet. Jetzt wußte er nicht so recht, was er sagen sollte. Hanne Wilhelmsen war zwar eine gute Freundin, aber sie war auch bei der Polizei. Er war bereits zweimal verhört worden, von einem riesigen Kerl, der in anderer Kleidung wie auf einem Propagandaplakat der Nazis ausgesehen hätte.
Øyvind Olve merkte, daß ihm vom Alkohol schwindlig war.
»Sie war einer der interessantesten Menschen, die ich je kennengelernt habe«, sagte er schließlich. »Sie war fürsorglich und tüchtig, sie hatte Pläne und Visionen. Und das Bemerkenswerteste an ihr war vielleicht ihr extremes Verantwortungsgefühl. Sie ließ die Arbeit niemals herumliegen. Immer übernahm sie Verantwortung. Und außerdem … sie war wirklich sehr lieb.«
»Lieb?«
Hanne lachte.
»Gibt es liebe Leute in der Politik? Was verstehst du unter lieb?«
Øyvind Olve schien kurz zu überlegen, dann bat er den Kellner um ein weiteres Bier.
»Birgitte war ehrlich davon überzeugt, daß es die Aufgabe der Politik sei, für so viele Menschen wie möglich eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Nicht nur in ihren Reden, nicht nur auf dem Papier. Es ging ihr wirklich um die Menschen. Sie wollte zum Beispiel jeden Brief lesen, in dem ihr die Leute ihre Probleme vorlegen wollten. Und das waren ziemlich viele, das kann ich dir sagen. Wir konnten ja nicht sehr viel für solche Leute tun. Aber sie hat alle Briefe gelesen, und manches davon hat ihr arg zu schaffen gemacht. Manchmal hat sie auch eingegriffen. Was die Bürokraten ungeheuer geärgert hat.«
»War sie bei ihnen
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