Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Schlafzimmer; der großgewachsene Polizist folgte ihm und starrte ihn an, bis er sich fertig gemacht hatte, um die Beamten zur Wache zu begleiten.
Mittwoch, 16. April 1997
9.15, Hauptwache Oslo
»Long time no see.« Billy T. grinste Severin Heger an und bückte sich, um dem Mann beim Aufheben der zu Boden gefallenen Ordner zu helfen.
»Paß doch auf«, sagte Heger, lächelte aber trotzdem.
»Wo steckst du denn so im Moment?« fragte Billy T. und sah seinen Kollegen erwartungsvoll an.
Severin Heger arbeitete schon seit fast vier Jahren beim Polizeilichen Überwachungsdienst. Er war der einzige dort, mit dem Billy T. sich verstand, und das hatte eine ganz besondere Vorgeschichte. Sie waren gleichaltrig und hatten ihre Ausbildung zusammen gemacht. Beide waren über zwei Meter groß, beide fuhren eine Honda Goldwing, und als Billy T. 1984 beim Karate inoffizieller norwegischer Meister geworden war, war Severin auf dem zweiten Platz gelandet. Als sie ihre letzte Prüfung bestanden hatten und ihre nackten Uniformschultern stolz mit einem goldenen Streifen versehen durften, waren sie mit anderen durch die Stadt gezogen. Zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Nacht hatte Severin in ziemlich betrunkenem Zustand einen unbeholfenen sexuellen Annäherungsversuch gemacht. Billy T. hatte das Angebot weitaus taktvoller und eleganter abgelehnt, doch als Severin darauf in heftiges Schluchzen ausgebrochen war, hatte Billy T. ihm den Arm um die Schulter gelegt und ihn nach Hause gebracht. Billy T. hatte im Laufe dieser Nacht drei Kannen Kaffee gekocht und den verzweifelten Severin mit vielen Worten getröstet. Als die Sonne im Osten die Wolkendecke durchbrach und beide ganz ausgenüchtert auf dem Balkon der kleinen Wohnung in Etterstad saßen, sprang Severin plötzlich auf, holte einen kleinen Silberpokal mit einer Gravur und rief:
»Der ist für dich, Billy T. Das ist mein allererster und allerschönster Pokal. Vielen Dank.«
Seither hatten sie nur wenig miteinander zu tun gehabt; ab und zu tauschten sie einen Gruß und ein Schulterklopfen, und noch viel seltener trafen sie sich bei einem kühlen Bier. Keiner von beiden hatte den Frühlingsabend, der nun schon viele Jahre zurücklag, je wieder erwähnt. Der Silberpokal stand im Regal in Billy T.s Schlafzimmer, zusammen mit einem Eierbecher, den er zur Taufe geschenkt bekommen hatte, und einem Babyschuh seines ältesten Sohnes. Soviel Billy T. wußte, hatte Severin damals in der Nacht eine Entscheidung getroffen, eine ganz andere, als Billy T. ihm geraten hatte. Severin Heger lebte im Zölibat, und Billy T. hatte niemals irgendwelchen boshaften Klatsch über seinen alten Kumpel gehört.
»Ich mache vermutlich dasselbe wie du«, sagte Severin Heger. »Das tun wir doch derzeit fast alle, oder?«
»Geh ich mal von aus. Wie geht’s sonst?«
Severin Heger biß sich auf die Unterlippe und schaute sich nach allen Seiten um. Kollegen eilten an ihnen vorbei, manche hoben die Hand zum Gruß, andere schmetterten im Vorübergehen ein munteres Hallo.
»Hast du Zeit für eine Tasse Kaffee?« fragte Severin plötzlich.
»Eigentlich nicht, aber gerne«, grinste Billy T. »Kantine?«
Sie setzten sich nach ganz hinten, vor die Türen zur Dachterrasse. Es war kühl, und der Himmel drohte mit Regen, deshalb waren sie hier allein.
»Ihr genießt das da oben bestimmt«, sagte Billy T. und nickte Richtung Decke. »Habt euch wahrscheinlich noch nie dermaßen amüsiert.«
Severin blickte ihn mit ernster Miene an.
»Ich begreife einfach nicht, warum du so eine schlechte Meinung von uns hast«, sagte er. »Meine Kollegen sind anständige, hart arbeitende Menschen, genau wie ihr.«
»Von dir habe ich überhaupt keine schlechte Meinung. Aber ich kann eure Geheimniskrämerei nicht ausstehen. Jetzt zum Beispiel habe ich ein ziemlich starkes Gefühl, daß nicht einmal unsere Ermittlungsleiter wissen, von welchen Theorien ihr ausgeht. Bei diesem Fall ist besonders frustrierend, daß offenbar niemand den Überblick hat. Aber wir anderen versuchen zumindest, uns gegenseitig zu informieren.«
Severin sagte nichts, starrte Billy T. aber weiterhin an und kratzte sich dabei den Handrücken.
»Woran denkst du?« fragte Billy T. und goß sich so energisch Cola ins Glas, daß die schwarze, schäumende Flüssigkeit auf den Tisch schwappte.
»Verdammt«, murmelte er, wischte mit der Hand über den Tisch und trocknete sie dann an seiner Hose ab.
Severin beugte sich zu ihm vor und
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