Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
DDR politisch isoliert, und alle NATO-Länder hatten Handelsrestriktionen verhängt.«
Liten Lettvik legte eine Kunstpause ein.
»Könnten Sie uns verraten, warum all das in ihrer Verlautbarung von vorhin mit keinem Wort erwähnt wurde, wo doch die historischen Tatsachen ans Licht gebracht werden sollten?«
Ruth-Dorthe Nordgarden riß sich zusammen.
»Es ist nicht meine Aufgabe, vollkommen unbestätigte Behauptungen zu kommentieren.«
»Unbestätigt? Lesen Sie die AZ, Frau Ministerin. Und ich möchte, wenn ich darf, der Regierung noch einen freundschaftlichen Rat erteilen. Sehen Sie sich doch einmal genauer an, in welche Länder damals Eisenerz aus Narvik exportiert wurde. Sehen Sie sich das mal genauer an. Das haben wir nämlich getan.«
Sie setzte sich wieder.
Niemandem fiel so schnell eine weitere Frage ein, worauf Edvard Larsen augenblicklich die Pressekonferenz für beendet erklärte.
Ruth-Dorthe stürzte vor einem Troß von Fotografen aus dem Zimmer, die übereinander stolperten, fluchten und schrien. Keiner von ihnen registrierte allerdings, daß Ruth-Dorthe Nordgarden die Tränen übers Gesicht strömten.
23.52, Eidsvoll
»Schläfst du, Liebes?« flüsterte er von der Tür her.
Seine Frau setzte sich im Bett auf.
»Nein«, schluchzte sie. »Ich schlafe nicht. Ich denke.«
Es tat ihm weh, ihre Stimme zu hören. Die Verzweiflung, die daraus sprach. Die Trauer. Sie hatten so viele Jahre gebraucht, um damit leben zu lernen. Irgendwie war es ihnen gelungen, aus der Trauer etwas zu machen, das sie aneinanderband, etwas Großes und Schweres, das nur ihnen gehörte. Das Bild der kleinen Marie hing über dem Sofa an der Wand: Das Mädchen lag nackt auf einem Schaffell, mit großen, kugelrunden Augen und einem weitaufgerissenen Mund mit etwas Speichel an der Unterlippe. Es war ihr einziges Foto des Kindes. Im Laufe der Jahre war es verblaßt, so, wie ihr ganzes Leben nach Maries Tod verblaßt war, als Kjell und Elsa Haugen aus irgendeinem Grund keine Kinder mehr bekommen hatten. Ein Jahr nach dem Tod des Kindes hatte er aus dem Kinderzimmer ein Arbeitszimmer gemacht, was Elsa stillschweigend hingenommen hatte. Aber er wußte, daß sie in einem Schuhkarton Erinnerungen an das Kind aufbewahrte, eine blaßrosa Strampelhose, eine Stoffwindel, eine Rassel, eine Locke, die sie ihr nach ihrem Tode abgeschnitten hatten. Der Karton stand unten im Kleiderschrank, aber für Kjell bedeutete er keine Anklage, auch wenn Elsa ihn nicht mit ihm teilen wollte. Der Karton enthielt die Erinnerungen einer Mutter, das verstand und akzeptierte er. Im Laufe der Jahre hatten sie aufgehört, Maries Geburtstag zu begehen, und irgendwann war das Leben wieder erträglich geworden. Jedes Jahr zu Heiligabend besuchten sie das Grab ihrer Tochter, sonst nie. Es war besser so, darüber waren sie sich einig.
Er starrte seine Hände an. Sein Trauring hatte sich tief in den Mittelfinger der rechten Hand eingeschnitten.
»Komm, wir machen uns einen Kaffee«, sagte er. »Wir können ja doch nicht schlafen.«
Sie lächelte ihn zaghaft an, wischte sich mit einem großen, zerknüllten Taschentuch die Tränen ab und folgte ihm in die Küche. Sie setzten sich einander gegenüber an den Eßtisch, den Alltagstisch, an dem nur zwei Stühle standen.
»Es ist so seltsam«, sagte sie. »In meinen Gedanken ist Marie immer ein Baby. Aber jetzt wäre sie ja erwachsen. Zweiunddreißig Jahre alt. Vielleicht wären wir …«
Die Tränen liefen ihr über die verhärmten Wangen, und sie drückte seine Hand.
»Vielleicht wären wir jetzt sogar schon Großeltern. Und eins von den Enkelkindern könnte den Hof übernehmen.«
Sie sah ihren Mann an. Er war vierundfünfzig Jahre alt. Mit fünfzehn Jahren hatten sie sich auf einem Fest im Dorf kennengelernt und waren seither immer zusammen gewesen. Ohne Kjell hätte ihr Leben an dem Morgen geendet, an dem sie aufgewacht war und Marie tot in ihrem Bettchen gefunden hatte. Vier Stunden lang hatte sie ihr Kind noch gewiegt, sie hatte es nicht hergeben wollen, als der Bezirksarzt gekommen war. Kjell hatte sie am Ende dazu bringen können, es loszulassen. Kjell hatte drei Tage lang neben ihr gelegen und sie im Leben festgehalten. Kjell hatte es ihr mit der Zeit ermöglicht, beim Gedanken an das Kind, das sie trotz allem einige Monate lang gehabt hatten, zu lächeln.
»Tja«, sagte Kjell und schaute aus dem Fenster. Es war nicht mehr so winterlich schwarz, ein grauer Schimmer in der Nacht kündigte den nahenden
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