Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
fatalen Abend, an dem Birgitte Volter gestorben war, hatte sie wirklich keinen Tropfen mehr angerührt. Dieser Schmerz war neu, fremd und äußerst beängstigend. Die beiden Paracetamoltabletten hatten nichts geholfen, und sie suchte in ihrer Handtasche nach einem stärkeren Mittel.
Die Zeitungsbuchstaben tanzten vor ihren Augen, als sie sich an den Küchentisch setzte. Der Kaffee schmeckte ranzig, aber nach einer halben Tasse verspürte sie trotzdem ein gewisses Gefühl der Erleichterung. Ob das am Kaffee lag oder an dem mit Fusseln beklebten Paralgin forte, konnte sie nicht sagen.
Der Fall war inzwischen nicht mehr das alleinige Eigentum der AZ. Obwohl die noch immer eine Nasenlänge vor den anderen lag, hatten sich jetzt alle großen Zeitungen darauf gestürzt. Und das führte zu neuen Herangehensweisen, Blickwinkeln, Theorien. Jetzt kannten die Spekulationen der pessimistischen, schwermütigen Kommentatoren kaum noch Grenzen. Obwohl noch immer niemand wagte, einen Mörder beim Namen zu nennen, stellte nun die gesamte Presse eine enge Verbindung zwischen dem Gesundheitsskandal und dem Mord an Birgitte Volter her. Zwischen den Zeilen tauchte immer wieder der Name Benjamin Grinde auf. Alle bezeichneten die Freundschaft zwischen Volter und Grinde als Beweis für die Vetternwirtschaft in der Staatsverwaltung und als Folge der langjährigen Herrschaft der Sozialdemokraten. Daß mitten im kalten Krieg in einem Ostblockland Impfstoff gekauft worden war, wurde unverblümt zum größten Skandal der norwegischen Nachkriegsgeschichte erklärt, für unvergleichlich viel schlimmer als die illegalen Lauschangriffe oder das Atomwaffenunglück in der Kings Bay. Durch ihre stechenden Kopfschmerzen hindurch mußte Ruth-Dorthe Nordgarden zugeben, daß die Zeitungen in dieser Hinsicht nicht ganz unrecht hatten, der Kauf hatte ja möglicherweise mehrere Hundert Leben gekostet. Wenn das alles stimmte.
Obwohl die anderen Zeitungen im Grunde nichts Neues brachten, war die gestrige Sonderausgabe der AZ so inhaltsreich gewesen, daß die anderen unzählige Seiten mit Kommentaren von Fachleuten und Laien füllen konnten, von Politikern und unermüdlichen Meinungsverkündern. Professor Dr. jur. Fred Brynjestad ritt wie immer heftige Attacken, auch wenn die aufmerksame Leserschaft nicht so genau erkennen konnte, gegen wen diese sich richteten.
Einige Kommentatoren befaßten sich auch mit Ruth-Dorthe Nordgardens Rolle in der ganzen Angelegenheit. Nicht, daß sie zur Mörderin ausgerufen worden wäre – 1965 war sie ein zwölfjähriges Pfadfindermädel gewesen –, aber trotzdem wurde ihr jetziges Verhalten hinterfragt. Besonders sauer stieß ihr auf, daß die Presse aus »sicheren Quellen« wußte, daß sie sich einige Tage vor Grindes Besuch bei Birgitte Volter geweigert hatte, sich mit diesem zu treffen. Die Spekulationen der Presse für den Grund dieser Absage waren ebenso phantasievoll wie unzutreffend.
»Ich hatte einfach keine Zeit«, murmelte sie vor sich hin. »Ich hab das nicht geschafft.«
Auch die Parlamentsabgeordneten meldeten sich zu Wort, manche schwerfällig und zögernd, andere preschten vor, ohne an etwas anderes zu denken als die Wahlen, die in fünf Monaten stattfinden sollten. Wie üblich machten sie zunächst mehr oder weniger sinnlose Vorbehalte geltend. Sinnlos, da sie danach ihre tiefe Enttäuschung über wirklich alles vorbrachten – über das Verhältnis der Sozialdemokraten zum Ostblock während der sechziger Jahre, über die Rolle der Polizei in den Ermittlungen zum Mord an Volter, über die Arbeit der Grinde-Kommission und deren Zusammensetzung und nicht zuletzt darüber, was der Mord für die norwegische Gesellschaft im allgemeinen und die norwegische Politik im besonderen für Folgen haben werde. Die Schonzeit sei einwandfrei zu Ende, und die Opposition wolle nun dafür sorgen, den Sozialdemokraten vor den Wahlen einen allzu heftigen Palme-Effekt unmöglich zu machen.
»Als ob der Mord die Unfähigkeit der Sozialdemokraten beweisen würde«, seufzte Ruth-Dorthe Nordgarden, griff sich an die Stirn und kniff die Augen zu. »Als ob der Mord irgend etwas über die Sozialdemokratie aussagen würde. Und vor einem halben Jahr ist uns noch vorgeworfen worden, wir hätten in den sechziger Jahren die Kommunisten verfolgt. Jetzt dagegen sollen wir mit ihnen unter einer Decke gesteckt haben.«
Wütend und resigniert schlug sie mit der Zeitung nach einer dreisten und von der Frühlingsluft benommenen Fliege, die
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