Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Frühling an. »Es hilft nichts, so zu denken, Elsa. Es hilft einfach nichts.«
»Du hättest diese Journalistin nicht kommen lassen dürfen, Kjell«, flüsterte sie. »Du hättest sie nicht kommen lassen dürfen. Alles wird … alles ist jetzt …«
Er drückte ihre Hände noch fester. »Aber, aber«, sagte er und versuchte zu lächeln.
»Ich habe das Gefühl, daß alles wieder hochkommt«, schluchzte sie leise. »Alles Schlimme. Das, was wir doch …«
»Schschsch«, flüsterte er. »Ich weiß es doch, Liebes. Ich weiß es. Es war dumm von mir. Aber am Telefon wirkte sie so anständig. Es schien ihr so wichtig zu sein, daß … was hat sie noch gesagt? Diesen Impfskandal ins rechte Licht zu rücken. Mir kam es richtig vor, so, wie sie es sagte. Sie wirkte so interessiert und mitfühlend.«
»Hier war sie dann nicht mehr besonders mitfühlend«, sagte Elsa. Sie sprach jetzt lauter und ließ die Hände ihres Mannes los, um sich die Nase zu putzen. »Hast du gesehen, wie sie das Bild von Marie angestarrt hat? Unverschämt war das, daß sie es ausleihen wollte. Richtig unverschämt!«
Sie sprang wütend auf und griff zur Kaffeekanne. Sie schenkte ihnen beiden ein, doch statt sich wieder zu setzen, blieb sie, an den Spülstein gelehnt, stehen.
»Und dann diese Fotografie! Wie sie sich auf dem Friedhof aufgeführt hat! Hast du gesehen, daß sie die Blumen zertrampelt hat? Verzeihung, sagte sie nur und trat mitten ins frischangelegte Grab von Herdis Bråttom. Was für ein Benehmen!«
Kjell Haugen schwieg. Er nippte an seinem Kaffee und ließ Elsa wütend sein. Für einen kurzen Moment konnte das ihre Trauer lindern. Er bereute das alles zutiefst. Die Frau von der AZ war kaum eine halbe Stunde geblieben, und zugehört hatte sie ihnen auch nicht. Jedenfalls nicht bei dem, was sie wirklich gesagt hatten. Sie interessierte sich nicht für Kjell und Elsa, ihr war es nur um Einzelheiten gegangen, die sie in wildem Tempo auf ihrem Block notiert hatte, ohne ihre Gegenüber auch nur anzusehen. Und obwohl Elsa extra für sie eine Sahnetorte gebacken hatte, hatte sie Kaffee und Kuchen abgelehnt.
»Es ist wie ein Messer«, flüsterte sie. »So, als ob jemand eine Narbe aufschneiden würde, die viele Jahre gebraucht hat, um zu verheilen.«
Kjell Haugen erhob sich mit steifen Bewegungen und ging ins Wohnzimmer. Er nahm die AZ vom Tisch. Dann zerriß er sie und warf die Fetzen in den Ofen. Er griff nach einer Streichholzschachtel, aber seine Hände zitterten so, daß er kein Feuer machen konnte.
»Ich mach das«, sagte seine Frau ruhig hinter seinem Rücken. »Gib mir die Streichhölzer.«
»Es war dumm«, flüsterte er in die Flammen, als sie aufloderten und sein Gesicht gelbrot färbten. »Aber am Telefon wirkte sie so sympathisch.«
Samstag, 19. April 1997
4.20, tief im Waldgebiet Nordmarka bei Oslo
Er hatte sie ausgetrickst, es war lächerlich einfach gewesen. Natürlich hatte er eine Weile gebraucht, um herauszufinden, wo sie sich befanden. Jetzt standen nach seinen überflüssigen Ausflügen in den kleinen Laden an der Ecke sechs Liter Milch im Kühlschrank. Die würden alle sauer werden, aber das spielte keine Rolle. Die Polizei behielt den Ausgang zur Vidars gate im Auge. Das war’s. Sie wußten offenbar nicht, daß man durch den Keller ins Nachbarhaus gelangen konnte, wo eine Kellerluke es ermöglichte, vom Hinterhof aus über den Zaun zu springen und durch das übernächste Haus auf die Straße zu gehen. Niemand hatte ihn gesehen. Um ganz sicherzugehen, war er mit drei Bussen und einer Straßenbahn in verschiedene Richtungen gefahren und im letzten Moment plötzlich abgesprungen, um schließlich in ein Sportgeschäft zu gehen und sich ein billiges Fahrrad zu kaufen.
Er war dann mit dem Rad zur Hütte gefahren. Dort war er erst spät am vorigen Abend eingetroffen. Es war schon stockfinster gewesen. Zuletzt war ihm kein Mensch mehr begegnet, das unfreundliche Frühlingswetter konnte offenbar nicht einmal die eifrigsten Wandervögel aus ihren Nestern locken. Er hatte ein wenig gelesen und war dann nur mit Mühe eingeschlafen. Mehrere Male war er aufgestanden, um sich selbst zu beruhigen. Doch niemand war draußen gewesen. Ab und zu hörte er am anderen Ufer des Weihers irgendein Tier rufen, und eine Stunde lang war ein leichter Frühlingsregen herabgerauscht. Ansonsten war alles still.
Nachdem er drei Stunden sehr unruhig geschlafen hatte, war er noch immer müde, beschloß aber aufzustehen. Er durchschwamm
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