Im Zweifel suedwaerts
… Boulogne-sur-Mer …« Betty tippte zielsicher auf die Karte, südlich von Calais, gegenüber von Großbritannien, kilometerweit weg von Paris. Es war halb vier. Wir hatten Aachen erst vor zweieinhalb Stunden verlassen und befanden uns jetzt in Belgien. Auf einem Rastplatz. Mal wieder.
»Boulogne-sur-Mer hat nichts mit Spaghetti Bolognese zu tun, Betty, ich sag’s dir gleich. Sonst bist du hinterher enttäuscht.«
»Das werden wir noch sehen, Schätzelein. Vielleicht erzählst du mir das ja auch bloß, damit wir heute noch bis hinter Paris durchheizen und ich die beste Bollo meines Lebens verpasse.«
Ich seufzte. Was sollte ich dazu auch sagen?
»Boulogne-sur-Mer«, verkündete Betty. »Wenn man die Chance hat, sollte man hinfahren.«
Viktor grunzte hinten im Bus, als er sich in eine andere Schlafposition brachte. Er hatte jetzt mehr Platz, weil Lucy und Karol sich gemeinsam auf den Weg zu den belgischen Toiletten gemacht hatten. Ich war auch schon da gewesen. Sie waren in einem hervorragenden Zustand. Es gab sogar Duschen. Und die Benutzung war kostenlos. »Wir könnten auch einfach hierbleiben«, schlug ich Betty vor, »die Sanitäreinrichtungen sind auf jeden Fall tiptop.«
»Du bist so ein Spießer, manchmal weiß ich wirklich nicht, warum ich dich überhaupt liebe.«
Ich zuckte mit den Schultern und bemerkte, dass tief in meinem Rucksack mein Handy klingelte. Während ich ohne viel Hoffnung, es rechtzeitig zu finden, danach suchte, schwang Betty sich aus dem Bus.
»Heute Abend, Spaghetti Bollo mit Meerblick«, rief sie mir vom Parkplatz zu. »Ich hol mir ’ne Cola, willst du auch was?«
Ich fand das Telefon, schüttelte abwesend den Kopf und nahm das Gespräch an. »Hallo?«
»Daphne, wir haben ein Problem.«
»Richard?«
»Du bist erst einen Tag weg und erkennst meine Stimme schon nicht mehr?«
»Nein, ich hab nur nicht aufs Display geguckt, und jetzt war ich mir gerade nicht sicher, wegen der langen Leitung, ich bin in Belgien …«
»Schon okay. Das war nur ein Witz.«
»Ach so. Na gut.« Und eigentlich liebte ich ja gerade das an Richard: dass er in jeder Situation in der Lage war, einen Witz zu machen und mich zum Lachen zu bringen. In der letzten Zeit irritierten mich seine Witze allerdings häufiger, als dass sie meine Laune besserten. Lag das an ihm? An mir? Am Wetterumschwung?
Immerhin, sagte ich mir, scheint er mir nicht übel zu nehmen, dass ich gestern Abend einfach aufgelegt habe. Sonst würde er keine Witze machen.
»Und?«, fragte Richard.
»Hm?«
»Ist Belgien schön?«
»Weiß nicht. Ich hab bisher nur die Autobahn gesehen. Die ist …« Dazu gab es wirklich nichts zu sagen. »Was ist denn passiert?«
Richard holte tief Luft, und während er ausatmete sagte er: »Hannes.«
»Ja?«
»Der dreht durch.«
»Warum?«
»Ja, warum wohl? Weil seine Freundin letzte Woche mit ihm Schluss gemacht hat und jetzt mit dir und Betty in den Süden fährt und er sich Sorgen macht, dass sie von irgendeinem heißblütigen Südländer verführt wird, mit Liebemachen am Strand im Mondschein und allem inklusive.«
» Davor hat er Angst?« Das passte nicht zusammen. Lucy hatte mit Hannes Schluss gemacht, weil allein der Gedanke an wilden Sex die Panik in ihr aufsteigen ließ. Und das wusste er ganz genau.
»Wieso sollte er davor keine Angst haben?«
Ein Dilemma. Durfte ich Richard in die tiefsten, intimsten Ex-Beziehungsgeheimnisse meiner Freunde einweihen? Das zu entscheiden und gleichzeitig weiterzureden, als wäre nichts, stellte sich als ziemlich schwierig heraus. Es war ja nicht so, als hätte ich eine Ausbildung bei irgendeiner Spezialeinheit gemacht, die mich auf so einen Moment vorbereitet hätte. »Äh …« stammelte ich, und das war ein Anfang. Ein schlechter Anfang, aber immerhin war es einer.
»Geht es um die Sex-Sache?«
»Woher …?«
»Hannes hat es mir erzählt.«
Ich schnappte ehrlich empört nach Luft. »Wie kann er nur?!« Mit solchen Geschichten war man vorsichtig. Die verteilte man nicht in der Gegend wie Konfetti.
»Daphne, wir wohnen hier zusammen. Temporär zumindest. Und der Junge ist am Ende.«
»Warum geht ihr dann nicht einfach zu Doris und trinkt schweigend einen Schnaps? Ich dachte immer, das machen Männer so, wenn es blöd läuft.«
»Du bist echt ein herzloses Stück.«
»Wie bitte?«
»War nicht so gemeint.«
Es war schon faszinierend. Sobald eine Beziehung sich in einer gewissen Schieflage befand, war es unmöglich, feine Nuancen von Ironie
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