Im Zweifel suedwaerts
Ich entschied mich, auf das Nickerchen zu verzichten und den dritten Reisetag ganz offiziell zu beginnen. Mit einem Frühstück. Das war immer ein guter erster Programmpunkt, ob man sich nun im Urlaub oder im schnöden Alltag befand. Nachdem ich meine Schuhe und einen Pulli angezogen hatte, holte ich ein großes Stück Torte aus dem Kühler, schnappte mir die klebrige Ausgabe von »Die Kunst des Liebens« und öffnete die Bustür in Erwartung einer wärmenden Umarmung der Morgensonne. Stattdessen schlug mir derselbe starke, kalte Wind entgegen, der schon am Vorabend vor dem Bus herumgelungert hatte. Reflexartig schlug ich die Tür wieder zu, suchte nach meiner Jacke, setzte mir Bettys Grenzkontrollmütze auf und wickelte mir, nachdem ich kurz überlegt hatte, eine unserer Wolldecken um den Bauch. Dann griff ich wieder nach Torte und Buch und startete einen neuen Versuch. Tür auf – Wind, Frösteln. Da machte man sich auf den Weg in den Süden, und wo landete man? An der Nordsee. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Ich überquerte den Parkplatz und setzte mich auf die Stufen, die zum Strand hinunterführten. Die dichte graue Wolkendecke jagte in rasender Geschwindigkeit über den Himmel, Möwen segelten im Wind, und ich wickelte die Decke enger um mich und versuchte, nicht so sehr zu zittern, während ich mir mit kalten Fingern kleine Stückchen Torte in den Mund schob. Weit und breit war niemand zu sehen.
Nachdem ich mein zuckerhaltiges Frühstück eingenommen hatte, begann ich, in dem klebrigen Buch zu blättern, dessen Zustand dadurch nicht verbessert wurde, dass sich an meinen Fingern noch Reste von Marzipan befanden.
Ich vertiefte mich in den Inhalt und hatte wenige Minuten später gelernt, dass das Lieben eine Kunst war (meine Überraschung darüber hielt sich dank des Titels in Grenzen) und nicht etwa einem glücklichen Umstand zu verdanken war. Das zu lesen deprimierte mich, denn wenn mich ein Gedanke in all den Jahren liebesbedingter Fehlschläge immer wieder getröstet und aufgerichtet hatte, dann der, dass ich eben einfach vom Pech verfolgt war, wenn es um Männer ging. Dass ich nichts dafür konnte. Und jetzt kam dieser Althippie daher, dieser – ich klappte das Buch zu und sah nach, mit wem ich es eigentlich zu tun hatte – Erich Fromm, zeigte mit dem Finger auf mich und behauptete, dass ich versagt hatte und niemand sonst. Dass all diese Katastrophen nur passiert waren, weil ich anscheinend keine Ahnung von der Kunst des Liebens hatte. Ich machte zum zweiten Mal an diesem Morgen »Ts!« und schüttelte den Kopf. Wenn Erich Fromm auch nur eines der vergangenen Jahre mit mir getauscht hätte, wäre ihm ziemlich schnell klar geworden, dass so etwas wie Pech in der Liebe doch existierte, egal wie viel Mühe man sich mit dieser Kunstsache gab.
»Viele Menschen meinen, zu lieben sei ganz einfach, schwierig dagegen sei es, den richtigen Partner zu finden, den man selbst lieben könne, und von dem man geliebt werde.«
»Ja, aber so ist es doch!«, rief ich frustriert.
»Wie ist was?«
Ich zuckte zusammen und sah erschrocken von dem Buch auf. Lucy stand vor mir auf dem Sand. Sie trug Karols Pulli über ihrem Sommerkleid und hatte die Arme gegen den Wind um ihren Körper geschlungen.
Ich hielt »Die Kunst des Liebens« in die Höhe. »Das hier ist der größte Quatsch, den ich jemals gelesen habe.«
»Ich hab die ›Twilight‹-Bücher dabei, falls du dir die leihen willst.« Sie nahm die drei Stufen zum Ende der niedrigen Treppe und setzte sich neben mich. »Die sind prima. Ich les die jetzt zum vierten Mal. Du musst dann natürlich warten, bis ich mit dem ersten durch bin. Die muss man schon in der richtigen Reihenfolge lesen, sonst bringt das nichts.«
»Danke.« Ich versuchte, einen Fussel vom Bucheinband zu wischen. Aber er blieb kleben, wo er war. »Mach dir keinen Stress. Ich glaub, ich geb dem hier noch eine Chance.«
»Okay.«
Wir schauten eine Weile den Wellen und den Möwen zu. Außerdem kreuzten zwei Spaziergänger in Windjacken unser Blickfeld. »Nordsee«, sagte ich.
»Hm?«
»Nichts.« Ich breitete die Wolldecke aus und legte mir die eine und Lucy die andere Hälfte über die nackten Beine. »Hast du gut geschlafen?«
Sie schaute verlegen auf ihre Füße. »Ich hab eigentlich gar nicht geschlafen.«
Dieser Satz aus Bettys Mund, und es wäre klar gewesen, was sie meinte. Wenn allerdings Lucy so etwas sagte … »Und was hast du stattdessen gemacht?«
»Ach, geredet. Nichts sonst.
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