Im Zwielicht der Gefühle (German Edition)
und sie befürchtete, versehentlich den Mann zu treffen.
Valandras Glieder zitterten vor Furcht, als sie erkannte, dass es nur eine Rettung für den armen Kerl gab. Sie tastete den Waldboden nach einem großen Stein ab und warf damit nach dem Bären.
„Hierher. Komm, du Biest! Fang mich!“
Mit einem ohrenbetäubenden Gebrüll ließ der Bär von seinem Opfer ab, drehte sich zu ihr um und stellte sich wütend auf die Hinterbeine. Das Tier war in einem regelrechten Blutrausch. Erneut brüllte es auf und entblößte dabei messerscharfe gelbe Zähne.
Valandra reagierte blitzschnell und dankte im Stillen ihrem Vater, dass er ihr beigebracht hatte, auch in gefährlichen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie spannte den Bogen mit aller Kraft, zielte auf das Bärenherz, schoss...
Daneben.
Verdammt, ihre Finger zitterten so stark, dass sie kaum den Bogen ruhig halten konnte. Sie riss den nächsten Pfeil aus dem Köcher, spannte und zielte erneut. Plötzlich war ihr, als hörte sie die Stimme ihres Vaters, der zu ihr sagte: „Denk immer daran, Sausewind, es gibt nichts Gefährlicheres als einen verwundeten Bären. Wenn du tatsächlich einmal das Pech hast, einem von ihnen so nah zu kommen, dass du das Weiß in seinen Augen siehst, ist genau dies dein Ziel. Es ist die einzige Möglichkeit, da lebend herauszukommen.“
Mit wütendem Brüllen und Knurren stürmte der Bär auf Valandra zu. Kaum mehr als zwanzig Schritte lagen zwischen ihnen.
Valandra wagte kaum mehr zu atmen. Sie zielte auf sein Auge.
Zehn Schritte. Dann waren es nur noch neun.
Sie schoss. Der Bär bäumte sich auf, doch sie hatte nur seine Wange getroffen. Blitzschnell schnappte sie sich einen weiteren Pfeil und spannte den Bogen mit der Kraft der Verzweiflung. Gleich würde dieses Ungetüm sie zerfleischen. Tränen rannen ihr über die Wangen. Noch fünf Schritte, noch vier, drei.
Sie hielt den Atem an und zielte erneut.
Gerade als der Bär zum Sprung ansetzte, ließ sie den Pfeil los und schoss. Gleichzeitig duckte sie sich unter den tödlichen Pranken hinweg und rollte zur Seite. Ein heißer Schmerz durchzuckte ihre Schulter, und sie schrie gepeinigt auf.
Valandra hörte ein grässliches Röcheln und zwang sich wieder auf die Beine, um einem neuerlichen Angriff zu entfliehen. Ungläubig und noch immer bebend vor Entsetzen, sah sie den Bären wie einen gefällten Baum zu Boden sinken.
Aus seinem linken Auge ragten nur mehr die Federn ihres Pfeils. Er zuckte einige Male, dann war er tot.
Valandra biss die Zähne zusammen, als der Schreck nachließ und ihre Schulter plötzlich wie Feuer brannte. Der Schmerz wurde immer heftiger, und sie befürchtete schon, einen Prankenhieb abbekommen zu haben, doch sie sah kein Blut.
Von weitem hörte sie Lord Stafford ihren Namen rufen. Er klang beinahe hysterisch.
„Ich bin hier, Lord Stafford. Hier drüben! Bringt Wasser und Verbandsmaterial mit!“, rief sie zurück und eilte zu dem verletzen Mann, der reglos am Boden lag.
Es musste sich um einen alternden Bauer handeln. Zumindest ließ sein grober Wollmantel darauf schließen. Ansonsten konnte sie unter all dem Blut nicht viel erkennen. Jedenfalls war der arme Kerl nicht aus dieser Gegend, denn sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Er stöhnte vor Schmerz.
Valandra riss einige Bahnen Stoff aus dem Unterrock heraus, um die stärksten Blutungen zum Stillstand zu bringen.
„Wo bleibt Ihr, Lord Stafford? Ich brauche das Wasser!“
„Ich komme, My...“ Beim Anblick, der sich ihm bot, verstummte der junge Mann abrupt. „Um Himmels willen, Lady Valandra, was ist denn hier geschehen? Männer, kommt her! Schnell!“
„Hört auf herumzubrüllen und bringt mir endlich Wasser! Unter all diesem Blut und Schmutz kann ich ja gar nichts erkennen“, fuhr Valandra ihn ungehalten an. Sie zog ihren kleinen Dolch aus dem Gürtel und schnitt dem Verwundeten das Hemd auf. Die Bärenkrallen hatten fünf lange, blutende Wunden quer über seiner Brust hinterlassen. Zu Valandras Erleichterung schienen sie jedoch nicht wirklich tief zu sein.
„Nun steht nicht herum und haltet Maulaffen feil. Helft mir lieber dabei, diesen armen Kerl aufzusetzen, damit ich ihn verbinden kann.“
Endlich erwachte Lord Stafford aus seiner Schocklähmung und kam ihrer Aufforderung nach.
Der Verwundete gab keinen Ton von sich, und Valandra glaubte, dass eine gnädige Ohnmacht ihn vor den Schmerzen verschonte. Plötzlich aber ergriff seine blutverschmierte Hand ihre Finger, und
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