Im Zwiespalt der Gefuehle
ihr Pferd vor wärts, aber es war zu spät. Selbst Jahre später vermochte Jura nie zu sagen, was dann geschah. Die Fearen, die in friedlichen Absichten gekommen waren, wurden jetzt schon zum zweiten Mal in kurzer Zeit angegriffen, und ihre Wut richtete sich gegen Geralt. Sie nahmen die Gelegenheit wahr und sprangen mit gezückten Waffen auf. Der junge Keon, soeben aus dem Rausch erwacht, sah das Durcheinander und begriff nicht, wer da nun wen angriff. Für ihn hatte es den Anschein, als wäre sein geliebter König Rowan in Gefahr.
Keon rannte mit gezogenem Schwert nach vom und schützte Rowan mit seinem Körper. Ein Fearen stürzte auf Geralt zu, verfehlte ihn aber, da Geralt zur Seite sprang. Das Schwert des Fearen bohrte sich in Keons Herz. Wäre Keon nicht gewesen, wäre Rowan tot.
Für einen Augenblick schien alles stillzustehen. Keon fiel lautlos zu Boden. Alle standen da wie erstarrt.
Als erster reagierte Rowan. Er kniete nieder und zog den Jungen in die Arme.
»Ihr werdet meinem Vater sagen, daß ich nicht umsonst gestorben bin«, hauchte der sterbende Junge.
»Ich werde es ihm sagen«, versprach Rowan leise.
Langsam, voller Qual, legte Keon seine Hand auf Rowans Schulter. »Ich habe nicht vergebens gelebt. Ich bin für meinen König gestorben. « Sein Körper erschlaffte in Rowans Armen.
»Das bedeutet Krieg«, verkündete Geralt ungerührt und schob sein Schwert in die Scheide.
Jura sah ihren Bruder an und bemerkte das triumphierende Funkeln in seinen Augen. Er war froh über den Tod des Jungen. Es freute ihn, daß ein Krieg aus-frechen würde. Er war glücklich darüber, daß Brocain Rowan töten würde… In diesem Augenblick wurde Jura klar, daß Geralt sich nicht einen Deut um Lankonien scherte. Ihn interessierte nur seine eigene Person und sein Machtstreben.
Jura blickte auf Rowan, der noch immer den Jungen in seinen Armen hielt. Einen solchen Gesichtsausdruck hatte sie noch nie bei ihm gesehen. Er hatte ein Gesicht wie aus Marmor gemeißelt — ohne jede Regung. Wahrscheinlich macht er sich auch Gedanken über einen Krieg, dachte sie.
Langsam hob Rowan den Jungen hoch und trug ihn in den Wald.
»Wir sollten besser losreiten«, meinte Geralt. »Brocain wird —«
Eiskalt funkelte Jura ihren Bruder an. »Du wirst hierbleiben und auf deinen König warten. Wenn du irgend jemanden verletzt, werde ich dich töten«, stieß sie hervor.
»Aber Jura —«, stammelte Geralt.
Sie wandte sich von ihm ab und lief hinter Rowan her. Cilean rief ihr nach, sie sollte Rowan allein lassen, aber Jura wollte bei ihm sein. Sie würden darüber reden, was jetzt geschehen mußte — nun, da der junge Zerna tot war.
Es verging einige Zeit, ehe sie ihn fand. Eine seltsame Szene bot sich ihren Augen, daher hielt sie sich zurück. Rowan hatte den Körper des Jungen auf einem Felsen aufgebahrt und war davor niedergekniet.
Jura blieb still stehen. Rowan drehte sich nicht um. Er kniete dort und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Jura brauchte einige Zeit, ehe sie begriff, daß Rowan weinte.
Sie war wie gelähmt, während sie ihn beobachtete. Noch nie hatte sie einen Mann weinen sehen, ein paar Frauen, ja — aber die Laute, die Rowan ausstieß, waren nicht mißzuverstehen. Sie ging nicht zu ihm, denn sie wußte nicht, was man mit einem Mann, der weinte, tat.
Sie trat hinter einen Baum. Sie wollte ihn nicht allein lassen, obwohl sie seine Reaktion auf den Tod des Zernajungen nicht verstand. Hatte er Angst davor, daß Brocain ihn jetzt töten würde? Brachte der Ausbruch eines Krieges die Engländer zum Weinen?
Sie schreckte zusammen, als Rowan anfing zu sprechen. Er sprach mit dem Gott, den er anscheinend als Freund betrachtete. Sie spitzte die Ohren, damit sie hörte, was er sagte.
»Ich habe versagt, Gott«, flüsterte Rowan. »Ich habe meinen Vater enttäuscht und mein Land. Ich habe sogar bei meiner Frau versagt. «
Bei diesen Worten runzelte Jura die Stirn und lauschte intensiver.
»Ich bat dich, mich von dieser Aufgabe zu entbinden«, fuhr Rowan fort. »Ich habe dir gesagt, daß ich unwürdig sei. Ich bin ein Feigling, und ich bin träge — so hat es mir mein alter Lehrer immer wieder gesagt. Ich kann dieses Land nicht einen. Es ist mir nicht bestimmt, Frieden zu schaffen. «
Er barg sein Gesicht in den Händen und schluchzte. »Jura hat das erkannt. Jura wußte, daß ich versagen würde. O Gott, ich war die falsche Wahl für diese Aufgabe. Dieser Junge ist für mich gestorben, um mein
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