Im Zwiespalt der Gefuehle
ahnte, daß er die Wut bezähmte, die ihn packte, wenn Thal seine Liebe für den englischen Sohn, den er so lange nicht gesehen hatte, so offen zur Schau stellte. Geralt hatte seinen Vater immer sehr verehrt, aber Thal hatte offensichtlich nie sehr viel von ihm gehalten, denn sonst hätte er ihn zum König gemacht.
Ruhiger geworden, wandte sich Geralt wieder an seine Schwester. »Wir müssen Lankonien schützen. Was immer dieser Mann auch tut, um unsere Pläne zu vereiteln — wir müssen das Land schützen. Am besten können wir das tun, wenn wir in seiner Umgebung arbeiten. Als erstes müssen wir eine Irial neben ihn auf den Thron setzen. Wir dürfen nicht zulassen, daß eine Frau aus einem anderen Stamm in Escalon regiert. Sie würde ihren eigenen Hofstaat mitbringen. Und nachts würden die Tore geöffnet und die Wachen überlistet. Nein — dem müssen wir Einhalt gebieten. Es darf nicht dazu kommen. Cilean muß auf den Thron. Was glaubst du — kannst du die Herausforderer besiegen? «
»Ja. Natürlich kann ich das«, erwiderte Jura. Und in diesem Augenblick glaubte sie wirklich, daß sie es schaffen könnte.
»Gut. « Er stand auf. »Komm mit. Du sollst den Sohn meines Vaters kennenlernen. «
Jura schnitt eine Grimasse. »Jetzt? Vor dem Frühstück? «
»Jetzt. Mein Vater will es so. «
Sie fühlte sich, als ob sie zu ihrer eigenen Hinrichtung geführt würde. Schnell kleidete sie sich fertig an und folgte Geralt. Sie machte sich nicht die Mühe, ihr langes Kleid anzuziehen. Statt dessen trug sie ihre Uniform, die aus einer Tunika, langen Hosen und einem weiten blauen Wollumhang, den sie über die Schultern warf, bestand. Sie zögerte, als sie ihre leere Messerscheide umschnallte. Doch dann entschied sie, daß sie sich unter dem Umhang gut verbergen ließe.
Geralt meinte schon, sie würde viel zu lange zum Anziehen brauchen. Da stieß sie die Tür auf und verließ das Zimmer. Ihr Bruder hielt es nicht für nötig, höflich neben ihr zu gehen, sondern stürmte ihr voran. Jura lief hinter ihm her, wie eine kleine Schwester — was sie ja auch war.
Er führte sie zum Trainingsplatz der Männer. Jura blieb einen Augenblick stehen und sah sich die Szenerie genau an. Zu ihrer Linken lag der alte Thal im Schatten eines Baumes. Die Krankheit hatte ihn ausgezehrt, und seine Haut war grau. Ganze Stapel von Kissen stützten ihn. Jura hatte noch nie erlebt, daß sich der starke alte Mann auch nur die geringste Bequemlichkeit in seinem Leben gestattet hatte — doch hier ruhte er auf bestickten Federkissen, die mit einem Gobelin bedeckt waren. Neben ihm saß eine schöne junge Frau mit goldenen Haaren. Sie trug ein langes Kleid, das aus einem Stoff gefertigt war, der im Sonnenlicht schimmerte. Neben ihrem Stuhl stand ein Knabe, der ebenso blond wie seine Mutter war. Alle drei blickten auf den Schießstand, an dem zwei Männer standen.
Jura ahnte, daß einer der beiden der junge Zerna sein mußte, weil er die rotgestreifte Tunika trug, die für diesen Stamm, charakteristisch war. Juras Blick ging über ihn hinweg. Der andere Mann forderte ihre Aufmerksamkeit.
Er war fast so groß wie die Lankonier, aber kräftiger gebaut. Fett ist er, dachte sie. Sein bequemes Leben hat ihn fett werden lassen. Sein Haar reichte bis zu seinem Brustharnisch und funkelte im Sonnenlicht. Es war nicht weiß, wie man ihr erzählt hatte, sondern glich in der Farbe eher altem Gold. Es sah so weich aus wie das Haar eines Mädchens.
Wenn Jura nicht schon vorher wütend auf ihn gewesen wäre, so wäre sie es jetzt geworden, denn er trug eine Tunika, die ihre Mutter vor Jahren für Thal angefertigt hatte. Thal war sie immer etwas zu weit gewesen, doch bei diesem Mann lag die Tunika eng an. Die reiche grüne und blaue Stickerei betonte seinen breiten Rücken. Jura sah auch die muskulösen Oberschenkel. Die Stiefel saßen eng um seine Waden.
Jura schnaubte. Vielleicht konnte er ja andere Frauen hinters Licht führen. Bei ihr würde ihm das nicht gelingen! Sie war schließlich an gutaussehende Männer gewöhnt. War denn Daire nicht schön genug, um selbst den Mond neidisch zu machen?
Sie straffte ihre Schultern und ging weiter, um ihren König zu begrüßen. Indessen verschwand Geralt auf dem Trainingsplatz, um nach seinen Männern zu sehen.
Sie haßte es, Thal in seinem jetzigen Zustand zu sehen: schwach, hilflos und dem Tode nahe. Natürlich würde sie es ihm nie mitteilen. Ihr Verhältnis war immer von einer gewissen Zurückhaltung
Weitere Kostenlose Bücher