Imagica
Furie!«
Die Blechwände der Sackgasse waren hoch, und Schmutz bildete eine schlüpfrige Patina an ihnen. Gentle begriff sofort, daß er nicht an ihnen emporklettern konnte. Er lief weiter, zur Mauer am Ende, und warf sich in der Hoffnung dagegen, daß sie unter seinem Gewicht nachgeben würde. Aber ihre Erbauer
- zum Teufel mit ihnen! - hatten ausgezeichnete Arbeit geleistet. Die Mauer erzitterte zwar und Mörtelbrocken fielen zu Boden, aber es entstand kein Loch in der massiven Barriere.
Allerdings hatten Gentles Bemühungen ein anderes, unerwünschtes Ergebnis: Die von ihm verursachten Geräusche wiesen dem Nullianac den Weg.
Als Zacharias beobachtete, wie das schreckliche Wesen auf ihn zustapfte, stemmte er sich erneut gegen die Mauer, in der Hoffnung, doch noch zu entkommen. Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Aus dem Kribbeln im Nacken wurde ein schmerzhaftes Pochen, und gleichzeitig dachte Gentle, daß ihm 261
nun ein besonders entwürdigender Tod bevorstand. Womit habe ich verdient, in einer dunklen, stinkenden Gasse in Scheiben geschnitten zu werden?
»Womit habe ich das verdient?« kam es laut von seinen Lippen. Und noch einmal: »Womit habe ich das verdient?«
Die Frage blieb unbeantwortet. Oder? Als die Worte verklangen, hob Gentle die Hand zum Gesicht, ohne den Grund dafür zu kennen. Er spürte einen inneren Zwang, die Hand zu öffnen und zu spucken. Der Speichel fühlte sich kalt an, und die Haut schien zu brennen. Unterdessen verharrte der Nullianac nur einen Meter entfernt und holte mit seinen beiden Waffen aus. Gentle ballte die Faust, nicht zu fest, und hielt sie vor den Mund. Als die Klingen nach vorn schwangen, ließ er die angehaltene Luft entweichen.
Der Atem strich ihm heiß über die Finger, und als tödlicher Stahl heranzuckte, raste das Pneuma wie ein Geschoß davon.
Es traf den Nullianac mit solcher Wucht am Hals, daß er zurückgeschleudert wurde. Energie flackerte aus dem irrlichternden Kopf, raste wie ein von der Erde geborener Blitz gen Himmel. Das Geschöpf fiel in den Dreck, ließ die Klingen los und tastete nach der Wunde, bekam jedoch keine Gelegenheit mehr, sie zu berühren. Es erbebte noch einmal am ganzen Leib, bevor es starb. Die im Gebet vereinten Hände des Kopfes neigten sich zur Seite, und das Glühen zwischen ihnen verblaßte.
Mit einer Mischung aus Bestürzung und Verwunderung stand Gentle auf, und sein Blick wanderte von der Leiche zu seiner Faust. Behutsam öffnete er sie. Der Speichel war fort, hatte sich in eine Art tödlichen Pfeil verwandelt. Nur eine Verfärbung, die vom Daumenansatz bis zur anderen Seite der Hand reichte, erinnerte an das Pneuma.
»Lieber Himmel«, hauchte er.
Am Zugang der Sackgasse hatte sich eine Gruppe aus Schaulustigen eingefunden, und hinter Gentle spähten 262
Neugierige über die Mauer. Aufgeregtes Murmeln erklang, und Zacharias fürchtete, daß es bald auch an die Ohren von Hammeryock und Pontifex Farrow dringen könne. Bestimmt stand den Herrschern von Vanaeph nicht nur ein Henker zur Verfügung. Es gab noch andere, und sicher dauerte es nicht lange, bis sie diesen Ort erreichten. Gentle trat über den Leichnam hinweg und versuchte dabei, keinen Blick auf die von ihm selbst verursachte Wunde zu werfen. Zweifellos bot sie einen gräßlichen Anblick.
Vor ihm teilte sich die Menge. Einige Personen verbeugten sich respektvoll; andere drehten sich um und flohen. Eine Frau trat näher und versuchte, ihm die Hand zu küssen. Gentle schob sie beiseite, sah in die Mündungen der verschiedenen Gassen und hielt nach Pie'oh'pah Ausschau. Als er keine Spur von ihm entdeckte, dachte er über seine Möglichkeiten nach. Welchen Ort würde der Mystif aufsuchen? Die Kuppe des Hügels? Ein guter Treffpunkt, jedoch mit einem erheblichen Nachteil verbunden: Sie mußten dort damit rechnen, sofort von ihren Feinden entdeckt zu werden. Was kam sonst in Frage? Die Tore von Patashoqua? Pie hatte sie kurz nach ihrer Ankunft erwähnt. Vielleicht wartet er dort auf mich, dachte Gentle und setzte den Weg in Richtung der funkelnden Stadt fort.
Als er durch Vanaeph wanderte, fand er schon viel zu bald Bestätigung für seine schlimmsten Befürchtungen: Die Pontifex und ihre Schergen wußten bereits von seinem Verbrechen. Er hatte fast den Rand der Barackenstadt erreicht und sah bereits das offene Gelände, das sich zwischen ihr und den Wällen von Patashoqua erstreckte, als Zeter und Mordio hinter ihm Verfolger ankündigten. Gentle trug noch immer
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