Imagica
Pflanzen, die Birken und Bambus ähnelten. Jenes Licht, das Pie von weitem gesehen hatte, glänzte nicht hinter den Fenstern, sondern stammte von Laternen, die in den Bäumen hingen und deren sanfter Schein auf die Straßen fiel. Fast jede kleine Ansammlung von Bäumen hatte ihren Laternenputzer, Kinder wie die Doeki-Hüter: Manche von ihnen lehnten an den Stämmen, andere hockten auf Ästen. Die Türen vieler Häuser standen offen, und aus einigen Fenstern klang Musik, in deren Takt man draußen tanzte. Gentle vermutete, daß die hiesigen Bewohner ein gutes, wenn auch wenig abwechslungsreiches Leben führten.
»Diese Leute dürfen wir nicht betrügen«, sagte er. »Es wäre unehrenhaft.«
»Einverstanden«, erwiderte Pie.
»Womit bezahlen wir?«
»Vielleicht bekommen wir für den Wagen eine gute Mahlzeit sowie ein oder zwei Pferde.«
»Ich habe noch gar keine Pferde gesehen.«
»Zwei Doeki wären nicht schlecht.«
»Sie sind langsam.«
Pie deutete an den Hängen der Jokalaylau empor. Hoch oben glänzten letzte Reste von Tageslicht auf weiten Schneeflächen, doch die Nacht verdrängte sie nun rasch, verwandelte das Massiv in einen Komplex aus Schemen und Schatten.
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»Dort oben ist ›langsam‹ gleichbedeutend mit ›sicher‹«, sagte Pie.
Gentle nickte.
»Ich suche jemanden, der für die ganze Dorfgemeinschaft zuständig ist«, fügte der Mystif hinzu und ging fort, um mit einem Laternenputzer zu sprechen.
Gentle hörte lautes Lachen und schlenderte weiter. Als er um eine Ecke gebogen war, sah er etwa zwei Dutzend Personen -
überwiegend Männer und Jungen - vor einem Marionettentheater, das man neben einem der Häuser errichtet hatte. Sein Aussehen stand in einem auffallenden Kontrast zur friedlichen Atmosphäre des Ortes. Auf die Leinwand im Hintergrund gemalte Türme ließen vermuten, daß die Geschichte in Patashoqua spielte. Gentle gesellte sich dem Publikum hinzu, als gerade zwei Protagonisten der Show - eine dicke Frau und ein Mann mit Fötus-Proportionen und übergroßem Geschlechtsteil - sich so heftig stritten, daß weiter hinten die Türme der Landschaft zitterten. Die Puppenspieler -
drei schlanke junge Männer mit identischen Oberlippenbärten -
waren deutlich über der Bude zu sehen; sie sorgten sowohl für den Dialog (angereichert mit altertümlich und gestelzt klingenden Flüchen) als auch für die akustische Untermalung.
Kurz darauf erschien eine dritte, bucklige Figur, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Pulcinella* aufwies und den Mann ohne viel Federlesens köpfte. Der Schädel fiel zu Boden, und die dicke Frau kniete schluchzend davor. Engelhafte Flügel entfalteten sich hinter dem Kopf, der - begleitet von einem lauten Falsett der Puppenspieler - langsam nach oben schwebte. Dieser Vorgang veranlaßte das Publikum zu einem begeisterten Applaus. Gentle sah sich um und bemerkte Pie bei einem Jungen mit Eselsohren und dichtem Haar, das bis zur
* Pulcinella: eine Figur der ›Commedia dell'arte‹, die aus dem neapolitanischen Volkstheater stammt, meist boshaft und bucklig, mit Vogelnase und kegelförmigem hohem Hut sowie weißer Kleidung. - Anmerkung des Übersetzers.
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Mitte des Rückens hinabreichte. Er ging zu den beiden hinüber.
»Das ist Efreet Splendid«, sagte der Mystif. »Mach dich auf eine Überraschung gefaßt: Er hat mir erzählt, daß seine Mutter oft von weißen, flaumlosen Männern träumt. Sie möchte dich kennenlernen.«
Ein breites Lächeln erstrahlte unter der Mähne, die im Gesicht des Jungen wuchs, und brachte aufrichtige Freude zum Ausdruck.
»Meine Mutter wird Ihnen gefallen«, sagte er.
»Glaubst du?« fragte Gentle.
»Und ob!«
»Bekommen wir bei ihr etwas zu essen?«
»Einem flaumlosen Weißen wird sie in jeder Hinsicht helfen«, versicherte Efreet.
Gentle bedachte den Mystif mit einem skeptischen Blick.
»Ich hoffe, du weißt, auf was wir uns da einlassen«, flüsterte er ihm zu.
Sie folgten Efreet. Der Junge redete die ganze Zeit über, fragte immer wieder nach Patashoqua und meinte, sein größter Wunsch sei es, jene großartige Stadt zu sehen. Gentle wollte den Jungen nicht mit dem Eingeständnis enttäuschen, überhaupt nicht in Patashoqua gewesen zu sein - in den höchsten Tönen lobte er die Pracht der Metropole.
»Am eindrucksvollsten ist das Fröhliche ›Ti Ti‹«, sagte er.
Der Junge lächelte erneut und kündigte an, er werde allen seinen Freunden von dem haarlosen weißen Mann erzählen, der das Fröhliche Ti' Ti'
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