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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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gesehen und dadurch fast den Verstand verloren; deshalb konnte er keinen Widerstand leisten, als Joshua Godolphin ihn rief, Gehorsam verlangte und Dowd befahl, bis zum Ende der Zeit seiner Familie zu dienen. Als sich Joshua dann auf den Landsitz zurückzog, gelangte der Beschworene in den Genuß neuer Freiheit und konnte umherstreifen. Schließlich starb der alte Mann, und daraufhin mußte Dowd in die Dienste von Joshuas Sohn Nathaniel treten, dem er seine wahre Natur erst offenbarte, als er unentbehrlich geworden war, aus Furcht, zwischen der Pflicht und dem Eifer eines Christen hin und her gerissen zu sein.
    Nun, Nathaniel stellte sich als jemand heraus, der Zügellosigkeit und Ausschweifungen liebte. Er scherte sich nicht darum, wer oder was Dowd war - solange er ihm die richtige Gesellschaft besorgte. Und so ging es weiter, Generation für Generation. Gelegentlich veränderte Dowd sein 75

    Aussehen (das fiel ihm nicht weiter schwer), um in der kurzlebigen menschlichen Welt über die eigene Langlebigkeit hinwegzutäuschen. Trotzdem gab es keine absolute Sicherheit für ihn. Vielleicht fand die Tabula Rasa irgendwann seine wahre Identität heraus, um anschließend in der Bibliothek nach einer Möglichkeit zu suchen, ihn zu eliminieren. Vage Furcht regte sich in ihm, während er im Flur wartete.
    Dowd mußte sich anderthalb Stunden lang gedulden, und lenkte sich ab, indem er an die Vorstellungen der nächsten Woche dachte. Das Theater war seine große Liebe geblieben, und er versäumte nie eine wichtige Aufführung. Er besaß Karten für den Lear im National am kommenden Dienstag und zwei Tage später für Turandot im Kolosseum. Etwas, auf das man sich freuen konnte, nach dem Besuch im Turm.
    Schließlich summte der Lift, und ein jüngeres Mitglied der Gruppe erschien: Giles Bloxham, ein Mann, der mit vierzig wie achtzig aussah. Wenn Godolphin zuviel getrunken hatte, machte er sich manchmal über absurde Aspekte der Tabula Rasa lustig, und Dowd erinnerte sich an eine Bemerkung über Bloxham: Wer so leichtlebig wirkt und nichts nachzutrauern scheint, der muß ein Genie sein.
    »Wir sind jetzt soweit«, sagte Bloxham und bedeutete Dowd mit einem Wink, zu ihm in den Lift zu treten. Als der Aufzug nach oben glitt, fügte er hinzu: »Ich möchte Sie auf folgendes hinweisen: Wenn Sie es jemals wagen sollten, etwas darüber verlauten zu lassen, was Sie hier sehen und hören - dann wird die Gruppe Sie so schnell und gründlich auslöschen, daß sich nicht einmal Ihre Mutter an Sie erinnert.«
    Bloxhams Stimme kam einem näselnden Greinen gleich, und daher klang die Drohung lächerlich. Dowd gab sich trotzdem beeindruckt.
    »Ich verstehe«, erwiderte er.
    »Es ist außergewöhnlich, ein Nichtmitglied zur Versammlung zuzulassen«, fuhr Bloxham fort. »Aber es sind außerge-76

    wöhnliche Zeiten. Was Sie natürlich nichts angeht.«
    »In der Tat«, kommentierte Dowd unschuldig.
    An diesem Abend wollte er Überheblichkeit und Arroganz der Gruppe hinnehmen, ohne darauf zu reagieren. Etwas bahnte sich an, etwas, das den Turm bis zu seinem Fundament erschüttern konnte - und dann gab es Gelegenheit zur Rache.
    Die Tür des Lifts öffnete sich, und Bloxham forderte Dowd auf, ihm zu folgen. Sie schritten durch mehrere schmucklose Korridore, in denen keine Teppiche lagen. Das galt auch für den Raum, der ihr Ziel darstellte. Die Vorhänge waren zugezogen, und das Licht der Deckenlampen fiel auf einen großen Marmortisch, an dem sechs Personen saßen, zwei von ihnen Frauen. Flaschen, Gläser, überfüllte Aschenbecher und düstere Mienen deuteten darauf hin, daß die Mitglieder der Gruppe stundenlang diskutiert hatten. Bloxham füllte ein Glas mit Wasser und setzte sich. Damit blieb ein Sessel leer: Godolphins. Dowd machte keine Anstalten, dort Platz zu nehmen, verharrte am einen Ende des Tisches und fühlte durchdringende Blicke auf sich ruhen. Er sah Gesichter, die der breiten Öffentlichkeit unbekannt waren. Zwar stammten diese Personen aus Familien, denen es nicht an Reichtum und Macht mangelte, aber sie blieben weitgehend anonym. Die Gruppe verbot es ihren Mitgliedern, öffentliche Ämter zu bekleiden oder jemanden zu heiraten, der die Neugier der Presse weckte.
    Sie arbeitete im geheimen, für das Ende des Geheimnisvollen.
    Vielleicht war es in erster Linie dieser Widerspruch, der letztendlich ihren Untergang besiegeln würde.
    Am anderen Ende des Tisches saß ein professoraler, gut sechzig Jahre alter Mann, dessen glattes

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