Immer Ärger mit Opa: Roman (German Edition)
Freitag.«
Freitag ist in vier Tagen, dachte ich. Wie sollte ich volle vier Tage überleben? In dreißig Metern Luftlinie zu Karl Küpper? Im Schoße einer Familie, in der gerne immer mal jemand verschwand? Mama zum Beispiel. Oder früher Großtante Marie. Als sie noch konnte. Mein Bruder Jan sowieso, und ich, na ja, für die längste Zeit. Und zuletzt Opa Hermann.
Ausgeschlossen.
Während nun der rote spitze Turm unserer Dorfkirche St. Johannis in Sicht kam, fragte ich mich zum hundertsten Mal, ob es eigentlich normal war, dass eine Sippe an allen Ecken und Enden auseinanderdriftete. Oder dass man sich seit Jahrzehnten hasste, wie Oma Grete und Großtante Marie. Oder dass ein braver kleiner Junge wie Jan sich zur schwarzen Heidschnucke der Familie entwickelte. Oder … Stopp! So kam ich nicht weiter. Ich sollte mir lieber überlegen, wie ich Opa Hermann ganz schnell wieder herbeischaffte, bevor irgendjemand etwas mitbekam.
»Habt ihr inzwischen DSL ?«, fragte ich Papa.
»Selbstverständlich. Wir leben in der Heide, nicht hinter dem Mond, auch wenn meine Tochter anscheinend anderer Meinung ist.« Er wirkte ein wenig beleidigt.
Egal. Hauptsache, ich würde nachher gleich ruckzuck ins Internet gehen und Hertha Kowalski in Hamburg ausfindig machen können. Bestimmt hatte sie die Tupperdose nicht einfach liegenlassen, sondern mit nach Hause genommen. Und so viele Frauen mit diesem Namen konnte es ja nicht geben.
Es gab dreihundertsiebenundfünfzig.
Aber das nur vorweg.
4.
Plietsch oder nicht plietsch?
Nordergellersen ist ein Dorf, wie es in jedem Reiseführer als typisch für die Lüneburger Heide beschrieben wird. Mit der schon erwähnten Kirche St. Johannis im Zentrum, einem Vorplatz mit alten Eichen und ein paar Holzbänken, einem Friedhof, auf den Opa Hermann wollte, und einem Pfarrhaus, in dem die Landfrauen im Sommer Heidesträußlein und im Winter Adventskränze bastelten. Drumherum stehen diese roten reetgedeckten Fachwerkhäuser, die Leute aus Hamburg, Berlin, New York und Tokio so wahnsinnig romantisch finden. Dazu ein Aktivmarkt mit Postamt im Nebenzimmer, der Gasthof Heidekrug , die Wache der Freiwilligen Feuerwehr, das Schützenhaus, die Kneipe Otto , der Reitstall des Reit- und Fahrvereins Nordergellersen … Was vergessen?
Ich sah wieder aus dem Fenster. Der Aktivmarkt hatte früher schlicht Edeka geheißen, der Gyros-Imbiss war neu, und diesen Getränkemarkt, an dem einige Jugendliche chillten, hatte es zu meiner Zeit auch nicht gegeben. Wir hatten damals bei Otto abgehangen, den Ausdruck chillen hatte es da noch nicht gegeben. Mama sagte dazu rumgammeln, und Oma Grete sprach von verplemperter Zeit.
Na und? Diese Jugendlichen da machten vielleicht nichts Besonderes, aber ich wusste noch genau, wie wichtig das war.
Ein paar gnädige Minuten lang vergaß ich meine prekäre Lage. Da! Die Abzweigung zum Baggersee. Ich erinnerte mich an heiße Sommernächte, lebensgefährliche Sprünge ins dunkle eisige Wasser, geklaute Maiskolben am Stock über dem Lagerfeuer und heimliche Küsse im Kiefernwäldchen.
Weiter vorn die leuchtend grünen Weiden, die fruchtbaren Äcker und das Reitgelände rund um den Homberg, der in Wahrheit nur ein Hügel war. Schlappe zweiundsiebzig Meter hoch, was in der norddeutschen Tiefebene aber richtig viel ist. Genug, um mit dem Namen ein bisschen anzugeben.
Erst einige Kilometer hinter Nordergellersen beginnt der Naturpark Lüneburger Heide mit seinen weiten, leicht welligen sandigen Flächen. Mit Heidekraut, Wachholderbüschen und Findlingen. Mit Heidschnuckenherden, immer ein wenig grimmig schauenden Schäfern und flinken Hütehunden. Mit Pferdekutschen, die Ausflügler durch den Park bringen, Verkaufsständen mit bestem Heidehonig, herzhaften Kartoffeln und würzigen Wildkräutern, und mit Schulkindern, die Werke des Heidedichters Hermann Löns zum Besten geben. Eben mit allem Drum und Dran.
Den Prospekt für den Ferienhof Lüttjens hatte übrigens ich geschrieben. Papa hatte mich darum gebeten, als ich zuletzt vor zehn Jahren in Nordergellersen gewesen war. Zur Diamantenen Hochzeit von Oma Grete und Opa Hermann. Da war mir keine Ausrede eingefallen. Zehn Jahre. Nicht zu fassen. Um ein Haar hätte ich jetzt gedacht: Wo ist bloß die Zeit geblieben? Aber ich ließ es. Wäre mir alt vorgekommen. Und gefehlt hatte mir, wie ich schon ein paarmal erwähnt habe, nichts.
Fast nichts.
»Wir sind da«, sagte Mama.
Ich zuckte zusammen. Konnten wir nicht noch weiterfahren?
Weitere Kostenlose Bücher