Immer Ärger mit Opa: Roman (German Edition)
zwar regelmäßig über Skype in Kontakt, aber in natura sah er völlig anders aus als durch die Webcam. Oder er hatte gerade seinen Look verändert, was bei ihm im Schnitt alle zwei Monate vorkam. Zuletzt war er jedenfalls noch aschblond wie alle Lüttjens gewesen. Selbst die Augenbrauen waren dunkel gefärbt, und für den südlichen Blick aus braunen Augen sorgten offenbar Kontaktlinsen. Er ging glatt als Zwillingsbruder von Ricky Martin durch. Nur der Dreitagebart fehlte. Wäre wohl zu schwierig geworden, seine hellen Stoppeln zu färben.
»Ist das ein Nachthemd von Oma?«, fragte er und grinste. Der Brilli auf dem rechten Schneidezahn war auch neu.
»Ich fürchte, ja.«
»Steht dir aber gut.« Er brachte das Tablett zu mir ans Bett. Deutscher Filterkaffee, goldgelbe Butter, duftender Heidehonig und frische Rosinenbrötchen. Ich vergaß, dass ich nur Latte macchiato und tibetischen Kräutertee trank, vergaß, dass ich seit Jahren morgens nur rasch ein paar Vitaminpillen schluckte.
Jan betrachtete mich mit einer Mischung aus Faszination und Ekel. Musste derselbe Blick sein, den er einem Kunden schenkte, der einen Haarschnitt selbstverständlich ohne blonde Strähnchen verlangte. Mein Bruder war nicht lange nach mir aus Nordergellersen weggezogen. Gleich nach seinem Coming Out hatte er eine Friseurlehre im Hamburger Schanzenviertel begonnen und sich von einem heimlichen Homosexuellen in einen lebensfrohen Schwulen verwandelt. »Wenn schon, denn schon«, hatte er damals zu mir am Telefon gesagt. »Schwuler geht nimmer.«
Sein Blick fixierte meinen linken Mundwinkel, aus dem ein wenig Honig tropfte. »Pfui, Nele. Willst du so fett werden wie Oma Grete?«
»Ich brauche Nervennahrung«, nuschelte ich.
»Wieso? Hast doch alles auf die Reihe gekriegt. Opa seine Urne ist da, und du musst nur ein paar Tage hier im Irrenhaus überleben. Dann kannst du wieder abdampfen, direkt zu den Saudis. Da angelst du dir einen stinkreichen Scheich und hast für dein Leben ausgesorgt.«
Das dritte Rosinenbrötchen lag mir auf einmal quer im Magen.
»Jan …«, begann ich. Wenn ich meinem Bruder nicht gestand, was passiert war, wem dann? Ich brauchte einen Verbündeten.
War bloß zu feige. »Wie geht’s Eike?«
Jans Grinsen erlosch. Eike Meier war nicht nur sein Chef, sondern auch seine große Liebe. Dummerweise jedoch seit zehn Jahren mit einer reichen Hanseatin verheiratet und fest davon überzeugt, durch und durch hetero zu sein. Zeitweilige Verirrungen in Jans Arme wurden, je nach Bedarf und Anlass, mit dem ungewohnten Alkohol auf einer Party, einer besonderen Stresssituation oder der weltweiten Finanzkrise erklärt.
Unter den Lüttjens war ich die Einzige, die ahnte, wie es wirklich in Jan aussah. In seinem Herzen war er nämlich spießiger als sämtliche Einwohner der Lüneburger Heide zusammen. Er träumte von einem eigenen Häuschen auf dem Lande, wahlweise einer eleganten Altbauwohnung in Eppendorf, er träumte von einer Hochzeit mit Eike und von mindestens einem adoptierten Sohn. Ich schätze, sein großes Vorbild ist neuerdings Elton John, obwohl ihm die Sache mit der Leihmutter vermutlich nicht ganz geheuer ist.
Traurigkeit saugte sich in seinen Augen fest, und zum ersten Mal fiel mir auf, wie ähnlich mein Bruder unserer Großtante Marie war. Abgesehen von den schwarz gefärbten Haaren, den Kontaktlinsen und dem Outfit, versteht sich. Marie musste in Jans Alter gute zehn Zentimeter größer und zehn Kilo kräftiger als jetzt gewesen sein.
Vielleicht lag’s ja an dem traurigen Blick, aber ich fand plötzlich, sie hätten Geschwister sein können, wenn nicht so viele Jahrzehnte zwischen ihnen gelegen hätten. So war das eben in Familien. Die Erbanlagen hüpften manchmal wild hin und her. Bei mir hatte sich ja auch Uropa Franz durchgesetzt.
»Sorry«, sagte ich schnell. »Das war daneben.«
Jan nickte wortlos, nahm mir das Tablett ab und stellte es auf meinen alten Schreibtisch.
Ich bemerkte, wie er die Schultern straffte. Dann drehte er sich wieder zu mir um.
»Mit Eike ist es aus. Aber ich möchte im Moment nicht darüber reden.«
»Alles klar«, murmelte ich. Gab es eigentlich ein einziges Mitglied der Familie Lüttjens, das glücklich war? Oder wenigstens zufrieden? Mir fiel niemand ein. Von Großtante Marie bis zu Jan schien jeder Einzelne eine Last und ein Geheimnis mit sich herumzutragen. Die Last war mal schwerer, mal leichter, das Geheimnis mal größer, mal kleiner. Bei mir war beides grad ziemlich
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