Immer Ärger mit Opa: Roman (German Edition)
aber dennoch: »Wieso?«
»Die erste hat gesagt, verkohlen könne sie sich alleine. Die zweite hat einfach aufgelegt. Die dritte hat gemeint, sie würde nie mit der Bahn fahren, weil die immer zu spät kommt, und die vierte hat sich furchtbar aufgeregt. Wie ich dazu käme, sie zu beschuldigen. Sie würde keine Gegenstände von fremden Leuten mitnehmen.«
Fast, aber nur fast, hätte ich gelacht.
Jan starrte in sein leeres Glas. Er sah genauso mutlos aus, wie ich mich fühlte. Nur einen Hoffnungsschimmer gab es noch.
»Möglicherweise müssen wir gar nicht nach Opa suchen«, überlegte ich.
»Nele, bitte. Wir können nicht einfach eine leere Urne beerdigen lassen. Das hat er nicht verdient.«
»So meine ich das nicht.« Dann erzählte ich Jan, was ich zu der Asche in die Tupperdose gesteckt hatte.
Erst starrte er mich nur groß an, dann leuchteten seine Augen auf. »Mensch, Kröte, das ist ja wunderbar! So kommt Opa fast von allein nach Hause.«
»Aber nur, wenn Hertha Kowalski die Tupperdose einmal öffnet«, gab ich zu bedenken.
In diesem Moment rief uns Großtante Marie zum Mittagessen. Keiner von uns verspürte besonderen Appetit; trotzdem gingen wir nach unten. Wenigstens wollten wir den Schein wahren.
Kurz darauf saßen wir am großen Küchentisch zusammen. Marie hatte ihren berühmten Steckrübenauflauf mit Hack und Zwiebeln gekocht.
»Lecker«, sagte Jan und piekste gedankenverloren auf seinem Teller herum.
»Genau wie früher«, steuerte ich bei und starrte lustlos auf meine Portion.
Selbst Papa schien keinen besonderen Hunger zu haben. Früher hatte er sein Essen immer in sich hineingeschaufelt, jetzt schob er äußerst gesittet mit dem Messer ein kleines Stück Steckrübe auf die Gabel, führte diese dann zum Mund und kaute eine Ewigkeit darauf herum. Entweder hatte er einen Benimmkurs besucht, oder seine Sorge um Mama war größer als sein Appetit. Das wäre dann wirklich bedenklich gewesen.
Marie schwieg und blickte auf den leeren Platz, an dem sonst Oma Grete saß. Die war noch immer nicht vom Steinmetz zurück. Und der Stuhl von Opa Hermann war auch schrecklich leer.
Ich hatte schon fröhlichere Momente in dieser Familie erlebt.
Als Jan meinte, wir müssten jetzt los nach Lüneburg, war ich vorübergehend erleichtert. Erst im Auto überlegte ich bedrückt, was wohl beim Termin bei diesem Anwalt auf mich zukommen würde. Was Gutes konnte es nicht sein. Hätte nicht zu den letzten Tagen gepasst.
10.
Eine Art Dschungelprüfung
Kaum hatte ich mich angeschnallt, schlief ich auch schon. Kein Wunder nach der ganzen Aufregung.
Als ich wieder aufwachte, landete ich mit einem Ruck in einem anderen Teil meiner Vergangenheit.
»Na, Kröte?«, scherzte Jan. »Kommen da nostalgische Erinnerungen auf?« Er hatte am Straßenrand gehalten und zwinkerte mir zu.
Mit einem schnellen Blick erkannte ich, dass wir uns im Lüneburger Stadtteil Rotes Feld befanden. Rechts und links von mir erhoben sich mächtige Gebäude aus der Gründerzeit, und direkt vor mir stand die imposante Wilhelm-Raabe-Schule.
»Nostalgische nicht gerade«, murmelte ich. Meine Schullaufbahn gehörte nicht zu den Glanzleistungen meines Lebens. Eigentlich hatte ich nur Abitur gemacht, weil Großtante Marie immer so traurig geguckt hatte, wenn ich mit einer schlechten Note heimgekommen war. Papa konnte brüllen, Mama laut schimpfen, Opa Hermann mit der Peitsche drohen, Oma Grete zetern bis zum Abwinken – imponierte mir alles nicht besonders. Aber Maries trauriger Blick ging mir durch und durch, wenn ich eine Fünf in Mathe oder eine Sechs in Physik hatte gestehen müssen.
Mein Abitur habe ich definitiv meiner Großtante zu verdanken.
Die Durchschnittsnote habe ich nie jemandem verraten. Ging keinen außer mir was an.
»Für dich war’s hier auch kein Zuckerschlecken«, sagte ich.
Er hob die Schultern. »Shit von gestern.«
Typisch Jan. Er blickte nie im Zorn zurück. Wahrscheinlich hatte er sogar vergessen, wie er in der Schule gehänselt worden war. Zu Hause in Nordergellersen kannte man ihn und akzeptierte seine Art, ein wenig anders zu sein. Durch die Grundschule war Jan als Klassenbester gerauscht. Das Gymnasium jedoch war ein anderes Kaliber. Da gab es neue Mitschüler, die sich über den Jungen lustig machten, der so sorgfältig gepflegt zur Schule erschien, der manchmal wie ein Mädchen kicherte und der sich kein Stück für Fußball interessierte.
Ich sah meinen Bruder von der Seite an. Nichts in seinem Mienenspiel
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