Immer Ärger mit Opa: Roman (German Edition)
war ein bemerkenswerter Mensch, Ihr Großvater.«
Ich stellte mir vor, dass er mich jetzt tröstend in die Arme nehmen würde. Alles Weitere konnte dann wieder einer höheren Macht zugeschrieben werden. Dumm nur, dass ich gerade aus dem Fenster sah. Der klare blaue Sommerhimmel über den roten Dächern der alten Salzstadt erinnerte mich an den Baggersee und an Karl Küppers leuchtend helle Augen. Vielleicht war es keine so gute Idee, sich von Paul Liebling umarmen zu lassen.
Mein Herz musste mal ein bisschen zur Ruhe kommen, wenigstens für ein paar Stunden.
Außerdem wurde ich langsam neugierig.
»Sie und ich sind uns dann ja im ICE begegnet«, fuhr Paul fort.
Wie bitte? Hatte ich eben was verpasst, oder hatte er die Szene im Krematorium einfach übersprungen? Litt er vielleicht auch an partieller Amnesie? An einer, die ein bisschen länger andauerte als meine Variante?
Und woher hatte er überhaupt gewusst, welchen Zug ich nehmen würde? Das war vermutlich die unwichtigste aller Fragen. Anwälte hatten da bestimmt so ihre Möglichkeiten.
Na gut, dachte ich, obwohl ich ein leises Bedauern nicht ignorieren konnte. Wenn er kein Wort über die Knutscherei verlieren will, tue ich das auch nicht. War ja peinlich genug.
Ihm auch. Ganz klar. Warum sonst hätte er im ICE vor mir weglaufen sollen? Nachdem er mir vorher offensichtlich bis zur Toilette nachgegangen war?
Oh, Mann!
»Sie waren komisch«, sagte ich, ohne nachzudenken.
Paul wurde jetzt rot, so richtig schön dunkelrot, da gab es nichts mehr zu deuteln.
»Ist doch wahr. Sie waren im Zug, aber Sie sind mir aus dem Weg gegangen.«
Sein neuerliches Räuspern hatte etwas Panisches. »Nun … ich … ich dachte gestern, Sie seien schon durcheinander genug, nach allem, was Sie mitgemacht haben. Da wollte ich Sie nicht noch mehr erschrecken.«
Es soll ja eine Menge Anwälte geben, die perfekt lügen können. Dieser hier gehörte nicht dazu, stellte ich fest. Der hatte ein Problem. Und zwar ein großes. Mit mir im Besonderen, oder mit Frauen im Allgemeinen. Keine Ahnung, was für eins. War gerade auch nicht relevant.
Ich beschloss, das Thema fallenzulassen.
»Ich glaube, ich brauche Ihre Hilfe.«
»Weil Sie die Asche des Verstorbenen mitgenommen haben?«
»Ähm … genau.«
»Ich habe mir erlaubt, mich gleich nach dem Vorfall darum zu kümmern. Es ist mir gelungen, nachträglich eine Ausnahmegenehmigung zu erwirken. Aufgrund der besonderen Umstände. Es wird keine rechtlichen Folgen für Sie geben.«
Ich war erleichtert, wollte es aber noch einmal genau wissen. »Besondere Umstände? Haben Sie denen gesagt, ich sei durchgeknallt?«
Paul lächelte. »Ich habe von einem seelischen Trauma gesprochen.«
An dem du auch beteiligt warst, mein Bester. Egal. Wenigstens dieses Problem konnte ich jetzt abhaken.
»Warum erzählen Sie mir nicht endlich, was Opa von mir wollte?«
»Es geht um eine Familienangelegenheit.«
»Hätte ich jetzt nicht gedacht.«
»Wie bitte?«
»Nichts, schon gut.« Ironie war nicht seine Stärke.
»Die Sache ist – nun, recht delikat.«
Delikat? Hä?
»Aber Hermann Lüttjens war der Meinung, dass die junge Generation aufgeklärt sein sollte.«
Meine Gedanken gingen in eine völlig verkehrte Richtung, und ich erinnerte mich daran, wie Opa mal meine sämtlichen Bravo -Ausgaben eines Jahrgangs vernichtet hatte, weil er einige Beiträge darin anstößig fand. Ich musste ein Kichern unterdrücken.
Im nächsten Moment hatte ich einen Kloß im Hals. So groß und fest, dass ich bestimmt nie wieder würde schlucken können.
»Ihr Vater Olaf Lüttjens ist nicht der Sohn von Hermann und Grete Lüttjens, sondern von Hermann Lüttjens und Marie Becker.«
»Das haben Sie mir jetzt aber hübsch schonend beigebracht«, murmelte ich, die ich noch gar nichts verstanden hatte.
Wer zum Teufel war Marie Becker?
Oh Gott!
Großtante Marie!
Ich starrte Paul an: »Das ist jetzt nicht wahr, oder?«
»Doch. Ihr Großvater hat mir alles erzählt. Möchten Sie die Geschichte hören?«
Nein!
»Ja, bitte.«
Paul bot mir zunächst ein Glas Wasser an, das ich ablehnte. An dem Kloß in meinem Hals wäre kein Tropfen vorbeigeflossen. Ein Jägermeister hätte vielleicht eine Chance gehabt, aber ich wollte mich jetzt nicht als Trinkerin outen.
Paul Liebling holte sehr weit aus.
Hermann Lüttjens hatte die junge Schülerin Grete Becker mitten im Krieg kennengelernt. Sie kam mit Klassenkameradinnen zum Ernteeinsatz auf seinen Hof. Der Jungbauer
Weitere Kostenlose Bücher