Immer Ärger mit Opa: Roman (German Edition)
anders bin.« Er wirkte kein bisschen geschockt. Eher aufgekratzt.
Ein Gedanke lenkte mich ab, und ich betrachtete Jan genauer. Mir fiel wieder ein, was ich gestern gedacht hatte: dass er Maries Bruder hätte sein können, wenn nicht so viele Jahrzehnte zwischen ihnen lägen.
Ohne sein extremes Styling könnte er glatt ihr Enkel sein, dachte ich jetzt.
Ist er ja auch, schoss es mir durch den Kopf. Erst langsam sickerte die Neuigkeit in mein Gehirn.
Und wie war das am Abend vorher gewesen? Als Marie Papa als ihren Stern und ihr Augenlicht bezeichnet hatte? War also doch keine Halluzination gewesen.
Als sei plötzlich ein Schleier gefallen, sah ich Marie so, wie sie in Wahrheit immer gewesen war. Ihre Anfälle von Traurigkeit, die ich für die Anwandlungen einer alleinstehenden Frau gehalten hatte, galten nur dem Sohn, der niemals ihrer sein durfte. Ihre Tränenreisen nach Bayern ebenfalls. Mit anderen kurzen Reisen und Ausflügen entfloh sie Gretes Zorn.
Zuletzt blieben ihr nur ihre Fluchten in die Stille, um ihrer Schwester zu entkommen.
Was für ein Leben. Was für eine Tragödie. Jahrzehntelang mit dem geliebten Kind unter einem Dach zu leben, ohne sich jemals zu erkennen zu geben.
Und … ich stockte. Jahrzehntelang einen Mann zu lieben, der einer anderen gehörte. Ihn täglich sehen, ihn jedoch nie mehr berühren, nie mehr küssen zu dürfen.
Nie!
Dafür wird Grete schon gesorgt haben.
Grete. Ich empfand Mitleid. Auch für sie. Hatte sie ihrem Mann doch nicht geben können, was er sich am meisten wünschte. Hatte Haltung bewahren müssen, in dem Wissen, sein Herz gehörte nicht mehr ihr.
So erklärte sich endlich der ewige Zank zwischen den beiden Schwestern, der auch jetzt nicht zur Ruhe kam.
Und Hermann? Wie hatte er sich bei alldem gefühlt? Das würde ich vermutlich nie mehr herausfinden.
Meine eigenen Probleme erschienen mir im Vergleich auf einmal recht klein.
Nicht lange, denn Paul sagte: »Es gibt da noch etwas, das Sie wissen sollten, aber das kann ich Ihnen erst bei der Testamentseröffnung nach der Beerdigung verraten. Ihr Großvater wollte es so.«
Beerdigung, Friedhof, Leichenschmaus, Heidschnuckenbraten, leere Urne.
Jan starrte mich an, als wollte er sagen: Wollen wir diesen hübschen Anwalt nicht in unser kleines Geheimnis einweihen? Vielleicht hat er eine geniale Idee.
Ich schüttelte heftig den Kopf.
Paul verstand das falsch. »Keine Sorge, Frau Lüttjens. Ich denke, es wird eine angenehme Nachricht für Sie sein.«
»Glaube ich kaum«, erwiderte ich. Für mich gab es keine angenehmen Nachrichten mehr. Auch keine Wunder. Keine Hertha Kowalski, die plötzlich vor der Tür stand.
Ich fühlte mich vorübergehend ausgesprochen mutlos.
Meine Gedanken kehrten zu Großtante Marie zurück. Großtante? Nein, Großmutter. Sie, die immer so viel liebevoller gewesen war, zu der ich bis heute eine Seelenverwandtschaft spürte: Sie war meine richtige Großmutter.
Ich lächelte. Wenigstens etwas Schönes an dieser ganzen vertrackten Geschichte.
Nur gut, dass man nicht in die Zukunft schauen kann.
Jan unterbrach meine Gedanken. »Und was sollen wir jetzt mit dieser Information anfangen?«
»Das müssen Sie beide entscheiden«, gab Paul zurück. »Ich habe hiermit den Wunsch meines Mandanten erfüllt, der sich allerdings nur auf Frau Lüttjens bezog.«
Jan steckte den Seitenhieb weg wie nichts.
»Okay, dann werden wir darüber beraten.«
»Ich möchte heimfahren«, sagte ich leise.
»Geht es Ihnen gut?«, erkundigte sich Paul. Er klang ehrlich besorgt, und ich hätte mich gern in seine Arme geworfen.
Schon wieder.
Zur Sicherheit stand ich auf und schmiegte mich an meinen Bruder.
»Alles bestens«, log ich. »Auf Wiedersehen.«
Dann zog ich Jan hinter mir her, durch den Dschungel, auf die Straße und in Richtung Parkhaus.
Wir liefen schweigend; jeder hing seinen Gedanken nach. Meine hüpften nur so hin und her, zwischen Opa Hermann, Grete, Marie, Karl und Paul.
»Hast du einen Lieblingsbaum?«, fragte ich Jan.
Er blieb stehen. »Wenn du jetzt auch noch den Verstand verlierst, Kröte, bin ich echt aufgeschmissen.«
»Quatsch. Ich frage nur so. Magst zum Beispiel lieber Eichen oder Zedern?«
»Was?«
»Ist doch eine einfache Frage.« Und ein privates Orakel, von dem er aber nichts zu wissen brauchte.
Sissi und ich stellten uns ständig Orakel. Früher mit Kinderüberraschungseiern. Wenn eine bestimmte Figur drin war, sollte alles gut gehen. Na ja, auch später kaufte ich mir
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