Immer für dich da (German Edition)
nicht mehr zu sehen waren. Natürlich träumte sie noch davon und wachte manchmal schweißgebadet auf, wenn diese Erinnerungen an die Oberfläche gestiegen waren, doch im hellen Tageslicht konnte sie sie mühelos wieder in ihr Versteck zurückschieben und ganz einfach vergessen. Nun aber hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas, was sie weder verdrängen noch vergessen konnte.
Chad. Ihn zu sehen hatte sie zutiefst erschüttert, und es wollte ihr einfach nicht gelingen, die Erinnerung daran auszulöschen. Es gab noch so viel, das sie nicht gesagt, nicht gefragt hatte.
Noch drei Monate nach ihrer Begegnung ertappte sie sich immer wieder dabei, dass sie sie bis ins letzte Detail auseinandernahm und auf Hinweise nach ihrer wahren Bedeutung untersuchte. Plötzlich stand Chad als Symbol für alles, was sie in ihrem Leben aufgegeben hatte. Für den Pfad, den sie nicht eingeschlagen hatte.
Noch schlimmer als alles andere war jedoch seine Bemerkung über Cloud. Du bist nicht allein, Tully. Jeder Mensch hat eine Familie. Zwar hatte er es nicht genau so gesagt, aber annähernd.
Wie eine Krebszelle wuchs die Erinnerung daran und breitete sich aus. Sie ertappte sich dabei, dass sie an Cloud dachte, nein ernsthaft über sie nachdachte. Doch jetzt lag ihr Fokus nicht mehr darauf, dass sie sie im Stich gelassen hatte, sondern dass sie immer wiedergekommen war. Tully wusste, es war gefährlich, sich bei all dem Negativen auf das wenige Positive zu konzentrieren, dennoch fragte sie sich plötzlich, ob es nicht vielleicht doch ihr Fehler gewesen war. Sie war so darauf versessen gewesen, ihre Mutter zu hassen und ihr enttäuschendes Verhalten wegzustecken, dass sie vielleicht die Bedeutung von Clouds mehrfachen Anläufen verkannt hatte.
Diese Vorstellung und die Hoffnung, die damit verbunden waren, ließen sich einfach nicht verdrängen und vergessen.
Schließlich gab sie alle Versuche auf, setzte sich hin und betrachtete sie von allen Seiten. Was schließlich dazu führte, dass sie eine Reise ins Ungewisse wagte. Sie hatte sich zwei Wochen freigenommen, einen Koffer gepackt und war in ein Flugzeug Richtung Westen gestiegen.
Knapp acht Stunden nachdem sie Manhattan verlassen hatte, fuhr sie auf Bainbridge Island in einer schwarzen Limousine vor dem Haus der Ryans vor.
Sie stieg aus und lief den grasgesäumten Plattenweg zur Haustür entlang. Kurz bevor sie die Stufen zur Veranda betrat, hörte sie drinnen Lärm. Das überraschte sie nicht. Kate hatte ihr erzählt, dass die erste Hälfte des Jahres 2003 wie gewohnt turbulent verlaufen war. Marahs Eintritt in die Pubertät war nicht allmählich, sondern ziemlich überstürzt vonstattengegangen, und die Zwillinge hatten sich von wilden Kleinkindern zu noch wilderen Fünfjährigen entwickelt. Jedes Mal, wenn Tully anrief, war Kate entweder mit Schadensbegrenzung oder Chauffeurdiensten beschäftigt.
Tully klingelte. Normalerweise wäre sie einfach ins Haus spaziert, aber normalerweise wurde sie auch erwartet. Doch diese Reise war so spontan gewesen, dass sie sich nicht mal angekündigt hatte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie selbst nicht damit gerechnet, sie überhaupt anzutreten. Sie hatte gedacht, im letzten Moment zu kneifen. Aber jetzt war sie hier.
Wildes Fußgetrappel erschütterte das Haus. Dann wurde die Tür aufgerissen und Marah stand vor ihr. »Tante Tully!«, kreischte sie und stürzte sich in ihre Arme.
Tully fing ihre Patentochter auf und drückte sie fest an sich. Als sie sich von ihr löste, starrte sie sie fassungslos an. Es war erst sieben, acht Monate her, seit sie Marah das letzte Mal gesehen hatte, doch jetzt erkannte sie sie kaum wieder. Die junge Frau, die vor ihr stand, war nicht nur größer als Tully, sondern sah mit ihrem makellosen Teint, den durchdringenden braunen Augen und den üppigen schwarzen Haaren, die ihr über die Schultern fielen, einfach hinreißend aus. »Marah Rose, du bist ja erwachsen geworden – und einfach umwerfend schön. Hast du schon mal dran gedacht, Model zu werden?«
Als Marah lächelte, wirkte sie noch anziehender. »Meinst du das ernst? Mom hält mich immer noch für ein Baby.«
Tully lachte. »Du bist ganz sicher kein Baby mehr.« Bevor sie noch etwas sagen konnte, kam Johnny mit einem zappelnden Jungen auf jedem Arm die Treppe herunter. Auf halbem Wege sah er sie und blieb stehen. Dann lächelte er. »Du hättest sie nicht reinlassen sollen, Marah. Sie hat einen Koffer dabei.«
Tully lachte und drückte die Tür
Weitere Kostenlose Bücher