Immer für dich da (German Edition)
zum Spiegel über seiner Kommode und trug noch eine Schicht Mascara auf. In den glamourösen Achtzigern konnte man gar nicht dick genug auftragen. »Du hast mich genügend vorbereitet, und wir beide wissen das. Du hast mich dazu gebracht, mir diese langweilige Jane-Pauley-Frisur schneiden zu lassen. Ich ziehe nur noch schwarze Kostüme an, und meine Schuhe könnte auch jede Hausfrau aus der Vorstadt tragen.« Sie musterte die falschen Fingernägel, die sie sich an diesem Morgen aufgeklebt hatte. »Was brauche ich mehr?«
Er setzte sich im Bett auf. Aus dieser Distanz konnte sie nicht erkennen, ob das Gespräch ihn eher nervte oder traurig machte. »Du kennst doch die Antwort«, sagte er leise.
Sie wühlte in ihrer Tasche nach einem neuen Lippenstift. »Ich hab das College satt. Ich muss raus, in die reale Welt.«
»Du bist noch nicht bereit, Tully. Ein Reporter muss die perfekte Mischung aus Objektivität und Mitgefühl ausstrahlen. Aber du bist zu objektiv, zu kalt.«
Dies war der einzige Kritikpunkt, der ihr wirklich zusetzte. Sie hatte sich jahrelang bemüht, nichts zu fühlen. Und jetzt sollte sie gleichzeitig mitfühlend und objektiv sein. Einfühlsam, aber professionell. Das schaffte sie einfach nicht, und das wussten sie beide. »Ich will ja noch nicht direkt zum Fernsehen. Hier geht es nur um ein Vorstellungsgespräch für einen Teilzeitjob. Bis ich den Abschluss habe.« Sie ging zum Bett. In ihrem schwarzen Kostüm und der weißen Bluse war sie der Inbegriff konservativen Chics. Sie setzte sich auf den Bettrand und strich Chad eine Locke aus den Augen. »Du bist einfach noch nicht bereit, mich hinaus in die Welt zu lassen.«
Er seufzte. »In der Tat habe ich dich lieber in meinem Bett.«
»Gib’s zu: Ich bin so weit.« Sie bemühte sich, erwachsen und sexy zu klingen, doch das leichte Zittern in ihrer Stimme verriet sie. Sie brauchte seine Anerkennung wie Luft und Licht. Natürlich würde sie auch ohne sie aufbrechen, aber nicht so selbstbewusst. Und Selbstbewusstsein musste sie heute unbedingt ausstrahlen.
»Ach, Tully. Du warst schon bei deiner Geburt so weit.«
Sie lächelte triumphierend, küsste ihn heftig, stand auf und nahm ihre Aktentasche. Darin befanden sich ein paar Kurzberichte, Visitenkarten mit der Aufschrift Tallulah Hart, Fernsehjournalistin und ein Video mit einer Story, die sie für KVTS gemacht hatte.
»Hals- und Beinbruch«, sagte Chad.
»Danke.«
Sie nahm den Bus in die Innenstadt, und während der gesamten Fahrt rekapitulierte sie das, was sie über den Mann wusste, mit dem sie sich gleich treffen sollte. Er war bereits ein bekannter Radioreporter gewesen, der während eines Konflikts in Mittelamerika einen wichtigen Medienpreis gewonnen hatte. Doch aus irgendeinem Grunde – den sie nicht hatte herausfinden können – war er plötzlich heimgekehrt und hatte andere Wege eingeschlagen. Jetzt arbeitete er als Produzent für eine der Lokalredaktionen eines großen Senders. Sie hatte endlos geprobt, was sie zu ihm sagen würde.
Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mr Ryan.
Ja, ich habe schon eine Menge Erfahrung für eine Frau in meinem Alter. Ich bin fest entschlossen, eine erstklassige Journalistin zu werden, und hoffe, nein, erwarte –
Der Bus hielt an der Ecke der First and Broad. Eilig stieg sie aus. Als sie auf dem Bürgersteig noch einmal ihre Aufzeichnungen durchsah, fing es an zu regnen. Sie zog den Kopf ein, um ihre Frisur zu schützen, und rannte den Block hinunter zur Redaktion.
Das kleine Betongebäude befand sich in der Mitte des Blocks und hatte einen angrenzenden Parkplatz. In der Eingangshalle studierte sie den Wegweiser und fand, wonach sie suchte: KCPO – 201 .
Sie nahm Haltung an, setzte ein professionelles Lächeln auf und ging hinauf.
Als sie oben angekommen war, drückte sie die Tür mit der Nr. 201 auf und stieß sofort mit jemandem zusammen.
Einen Moment lang verschlug es ihr die Sprache. Der Mann vor ihr war im wahrsten Sinne des Wortes umwerfend: wilde schwarze Locken, strahlend blaue Augen, Dreitagebart. Eigentlich hatte sie etwas ganz anderes erwartet.
»Sind Sie Tallulah Hart?«
Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Ja, das bin ich. Sind Sie Mr Ryan?«
»Ja.« Er drückte ihre Hand. »Kommen Sie mit.« Er führte sie durch ein kleines Vorzimmer voller Unterlagen, Zeitungsstapel und Kameras. Durch ein paar geöffnete Türen konnte sie weitere, leere Büros sehen. In einer Ecke stand noch ein Mann und rauchte eine Zigarette.
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