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Immer verlasse ich dich

Immer verlasse ich dich

Titel: Immer verlasse ich dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Scoppettone
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zu,
lasse den Schlüssel in meine Handtasche gleiten und lege sie auf einen kleinen
Eichentisch, auf dem sie immer ihre Post ablegte. Da ist noch ein Stapel Post,
ungeöffnet. Ich nehme ihn, gehe ihn durch. Überwiegend Zahlungsaufforderungen
und ihre Kontoabrechnung. Es sind Briefe von Visa, MasterCard, Discover,
American Express, Diners Club und der Telefongesellschaft darunter. Ich rufe
mir ins Gedächtnis, daß ich im Rahmen
    eines Falls hier bin, ebenso wie um
diese morbide Aufgabe zu erledigen, und daß ich die Post öffnen muß.
    Durch meinen Job bin ich schon oft in
den Genuß gekommen, allerdings habe ich das noch nie bei jemandem getan, den
ich kannte. Ist es ein Vertrauensbruch? Trage ich zu dem Reich der
Skrupellosigkeit bei, in dem ich in letzter Zeit zu leben scheine?
    dies ist meine
arbeit ! Da fragt man sich
unwillkürlich: Was für eine Art von Arbeit ist das eigentlich?
    Ich lege die Post wieder hin, um mich
später damit zu befassen.
    Jetzt werde ich mich erst einmal um die
nächstliegende Aufgabe kümmern. Die nächstliegende Aufgabe? Bin ich eine
Meisterin der euphemistischen Sprache geworden? Bin ich solch ein Feigling, daß
ich nicht mal mehr zu mir selbst direkt, ehrlich, freimütig sein kann? Ich bin
angewidert.
    Verschiedene Violettöne beleben das
Wohnzimmer. Vor einem Jahr ließ Meg einen Färbtest machen und beschloß, ihre
gesamte Kleidung wegzuwerfen und ihre Wohnung neu zu gestalten. »Wie’s
scheint, Laur, bin ich eine violette, lavendelfarbene Lady. Dachte immer, ich
sei blau und grün, aber laut Roz Begun stimmt das nicht. Fabelhafte Frau, Laur.
Du solltest auch zu ihr gehen. Das heißt, laß es lieber, du würdest es sowieso
für Quatsch halten.«
    Und das tat ich. Ich verurteilte es.
Warum nur? Was spielte es für eine Rolle, wenn es Meg glücklich machte? Das
Zimmer ist wunderschön: Ohrensessel aus Plüsch, ein lavendelfarbenes
Blumensofa, passende Vorhänge, ein weiteres Kass-Gemälde über dem Kamin. Ich
setze mich hin.
    Trauer legt sich über mich wie feiner
Staub, den ich nicht wegblasen kann. Wie oft hatten wir auf diesen Sesseln
gesessen und uns endlos unterhalten, über Liebe und das Leben und Geld und
Kinder und...
    Geld.
    Meg klagte immerzu über Geldmangel, nie
war genug da, immerzu war sie im Rückstand. Wie konnte sie sich dann zwei
Kass-Gemälde leisten? Neue Kleidung? Eine neue Inneneinrichtung? Wie so viele
andere Kleinunternehmen — die Reaganomics waren schließlich auf ihrem Höhepunkt
— rentierte sich der Laden nicht mehr. Die Rechnungen von den Kreditkarten
blitzen vor meinem geistigen Auge auf. Anscheinend lebte sie immer hart an der
Grenze, wie alle übrigen Amerikaner auch. Blythe macht es offenbar ihrer Mutter
nach, auf Pump zu leben. Auf keinen Fall kann sie von ihrem Gehalt so leben,
wie sie es tut.
    Ich stemme mich aus meinem Sessel hoch
und gehe in Megs Schlafzimmer. Es ist ebenfalls in verschiedenen Violettönen
gehalten: auf dem Bett liegt eine helle Decke, darüber spannt sich ein
dunklerer Himmel, blaßvioletter Teppich; Laura Ashley-Vorhänge, die zur
Bettwäsche passen.
    An ihrem Toilettentisch (wie seltsam,
daß sie einen hatte) nehme ich ihre Haarbürste auf, und als ich die goldenen
Haare sehe, die an den Borsten hängen, breche ich in Tränen aus.
    Die Zeit vergeht. Ich höre auf. Lege
die Bürste zurück. Gehe weiter. Offne die Schranktür. Eine Duftmischung, die an
ein gewisses Parfüm (Obsession) und an frischgemähtes Gras erinnert, schwappt
mir entgegen. Es ist Megans Duft. Fast überwältigt es mich wieder, doch ich
wappne mich, ein tapferer Soldat, wie Kip einer wäre. In solchen Augenblicken
macht sich für sie bezahlt, daß sie solch eine WASP ist. Jetzt hilft es auch
mir.
    Megs Kleidung hängt ordentlich in ihrem
Schrank, was ihr so gar nicht ähnlich sieht. Shirts, Hosen, Röcke, Kleider. Es
sind alles Variationen des Violetthemas. Als ich sie durchsehe, stelle ich
fest, daß an vielen noch Preisschilder hängen. Eine Bluse für dreihundert
Dollar? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Meg das für ein einzelnes
Kleidungsstück ausgegeben hat. Ich hatte von der neuen Garderobe gewußt, wegen
des Farbenwechsels, aber hier sind Kleidungsstücke, die sie nie getragen hat.
    Ich addiere die Preise, doch als ich
bei zweitausend anlange, höre ich auf. Was zum Teufel hat sie getan? Soll ich
eines dieser ungetragenen Outfits auswählen, um sie darin zu begraben? Nein.
Ich versuche mich zu erinnern, ob sie ein Lieblingskleidungsstück

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