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Immer verlasse ich dich

Immer verlasse ich dich

Titel: Immer verlasse ich dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Scoppettone
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Und was ihr
Vertrauensverhältnis betrifft, erzählte, laut Meg, die eine der anderen nie
etwas über sich, weil sie so ganz und gar verschieden waren. Vorbild? Worin
denn zum Beispiel?
    Plötzlich frage ich mich, ob Rosie Meg
getötet hat. Ich bin sicher, sie hat ein Alibi, das Cecchi nicht für
erwähnenswert hielt. Ich wünschte, ich wüßte, ob diese Frau tatsächlich glaubt,
was sie da erzählt, oder ob sie absichtlich Theater spielt, vielleicht für ihre
Eltern, andere Familienmitglieder, die Leute, weil sie es für passend hält?
    Und dann gibt es noch eine andere
Möglichkeit: Meg hat mich über die Art ihres Verhältnisses belogen. Natürlich
kenne ich die Wahrheit über die Zeit, als sie heranwuchsen, weil ich dabei war.
Dennoch kann meine Sicht der Dinge verdreht sein, weil Meg die schlimmen Dinge
besonders hervorhob.
    Ich habe das Gefühl, mich auf nichts
mehr verlassen zu können.
    Rosie beendet ihre Ansprache und geht
an ihren Platz zurück.
    Weitere Leute feiern meine Freundin,
und ich höre nicht mehr zu. Es ist zu verwirrend. Als die Zeremonie beendet
ist, sind meine Dienste als Sargträgerin wieder gefragt. Wir tragen den Sarg
nicht wirklich die ganze Zeit. Er wird auf einer Rollbahre zum Ausgang
gefahren, wo wir ihn die Stufen hinunterheben, dann wieder auf die Bahre
stellen und zum Leichenwagen schieben. Hier übernimmt das Bestattungspersonal.
    Meg soll auf einer Parzelle in New
Jersey begraben werden, die den Harbaughs seit vielen Jahren gehört. Kip,
William und ich fahren mit meinen Eltern. Leider geht es nicht anders.
    Mein Vater sitzt am Steuer. Er ist ein
attraktiver Mann über Sechzig, mit schwarzem Haar, das allmählich grau wird,
sein Haaransatz läßt aber keinerlei Anzeichen seines Alters erkennen. Er hat,
wie ich, eine römische Nase. Außerdem hat er schmale Lippen und ausgeprägte
Grübchen.
    Meine Mutter, die ungefähr in seinem
Alter ist, sieht für eine aktive Alkoholikerin erstaunlich gesund aus. Sie
pflegt sich sorgfältig mit Kosmetika. Ich bin zu dem Schluß gelangt, daß sie
das macht, um ihre Alkoholprobleme zu kaschieren. Ihr Haar ist braun gefärbt,
und ihr Make-up verdeckt die winzigen geplatzten Äderchen, die Haut einer
Trinkerin. Ihre haselnußbraunen Augen aber offenbaren alles, sie zeigen
deutlich ihre Hoffnungslosigkeit, das Gefühl der Sinnlosigkeit und Furcht.
    Ich fühle mich eingeengt. Ich bin eingeengt. Das Parfüm meiner Mutter verpestet das Auto, mir wird augenblicklich
übel, und ich werde unsanft in die Vergangenheit zurückversetzt. Ich bin
irgendwo zwischen vier und zwölf Jahren alt, komme von der Küste, vom Haus meiner
Großeltern, bin auf dem Weg zu Freunden. Wie ich es haßte, mit ihnen im Wagen
zu fahren. Wir mußten immerzu anhalten, weil mir immerzu schlecht wurde
und ich mich am Straßenrand übergeben mußte. Und jedesmal fühlte ich mich so gedemütigt.
Erst als ich älter wurde, merkte ich, daß das Parfüm meiner Mutter, oft
vermischt mit den Alkoholdünsten, der Übeltäter war.
    Plötzlich erinnere ich mich, wie ich
einmal mit Meg zur Küste von Jersey fuhr und wir dabei den ganzen Weg über
»Ninety-nine Bottles of Beer on the Wall« sangen. Komisch, daß mir überhaupt
nicht schlecht wurde, wenn Meg bei mir war. Lag es an der Ablenkung? Nein, an
dem Gefühl der Zusammengehörigkeit, denke ich. Wenn ich mit meinen Eltern
unterwegs war, fühlte ich mich einsam, weil sie nie wirklich da waren. Meg war
mein Trost, mein Elternersatz. Ich fange an zu weinen.
    Kip und William, die mich einrahmen,
nehmen jeder eine Hand von mir und halten mich fest.
    »Du mußt dich zusammenreißen«, sagt
meine Mutter und dreht schnell den Kopf, um mich über ihren Sitz hinweg
anzusehen.
    »Wieso?« frage ich.
    Sie macht »ts ts«, als sei ich ein
unverbesserlicher Trottel. »Sag du es ihr, Kip.«
    »Kann ich nicht«, sagt Kip, »weil ich
es nämlich auch nicht weiß.«
    Meine Mutter sieht William an, der mit
den Schultern zuckt. Sie dreht sich nach vorn und sagt: »Ihr Kinder.« Damit
will sie andeuten, daß wir uns alle nicht beherrschen können.
    Mein Vater versucht es anders. Er
berichtet von einem seiner Fälle, der uns seiner Meinung nach unterhalten und
amüsieren wird. Weder noch. Für die restliche Fahrt übernimmt meine Mutter
wieder das Reden und erzählt weitschweifig von Leuten, die wir nicht kennen
oder die uns gleichgültig sind.
    Zwei Jahrzehnte später treffen wir auf
dem Friedhof ein. Nach dem Einparken gehen wir ein kurzes Stück zur

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