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Immer verlasse ich dich

Immer verlasse ich dich

Titel: Immer verlasse ich dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Scoppettone
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anderen Seite.
    Zwei Jahre später kommt der Zug, den
ich brauche. Drinnen ist es noch heißer und stickiger als auf dem Bahnsteig,
obwohl der Zug nicht vollbesetzt ist. Ich ergattere einen Sitzplatz.
    Mir kommt es vor wie im Himmel,
zwischen einem riesenhaften Mann und einem Mädchen im Teenageralter
eingequetscht zu sitzen, denn ich brauche den Gitarristen nicht mehr zu
ertragen. Mir fällt auf, wie mitleiderregend anspruchslos ich geworden bin.
    Kaum hat der Zug sich in Bewegung
gesetzt, kommt ein dunkelhäutiger Mann in mein Abteil, der eine Zeitung
verkauft. Seit einigen Jahren erhalten die Obdachlosen auf diese Weise eine
Beschäftigung. Die Zeitung trägt den Namen Subway Times.
    Eine Weiße unbestimmbaren Alters mit
einem Pappbecher in der Hand bittet um Spenden, wozu sie ihre Lebensgeschichte
erzählt, und arbeitet sich langsam zu dem Zeitungsverkäufer vor.
    »Ich habe nicht immer auf der Straße
gelebt«, sagt sie. »Früher einmal war ich Buchhalterin in einer
Topwerbeagentur.«
    Schwer zu glauben, doch durchaus
möglich. Ich habe festgestellt, daß diese Art, sich auszuweisen (als Vorstand
eines Unternehmens, Universitätsprofessor, Bankier), seit dem letzten Jahr
grassiert. Deshalb habe ich den Verdacht, daß es nur eine Masche ist, die bei
uns Job-Besitzern den Eindruck wecken soll, es könnte jedem passieren. Und das
könnte es wohl auch, wenn ich mir auch nicht vorzustellen vermag, wie es mir
persönlich passieren sollte. Bin ich in Wirklichkeit eine verkrachte Existenz
im Detektivinnendress?
    Die beiden Mittellosen treffen sich in
der Mitte des Abteils, werfen sich einen gehässigen Blick zu und gehen weiter.
Ich weiß, daß einige der Obdachlosen von New York nicht wirklich obdachlos
sind, aber der überwiegende Teil ist echt. Ich kann nicht jedem etwas geben,
aber wenigstens einigen. Manchmal komme ich mir dabei vor wie ein römischer
Kaiser, der über Leben oder Tod entscheidet, und ich mag dieses Gefühl der
Macht nicht, mir fällt aber auch kein anderes Verfahren ein. Ich trage kleine
Beutel mit Bargeld bei mir. Am schwersten fällt es mir, Frauen leer ausgehen zu
lassen. Einen Beutel lasse ich in den Becher der Ex-Buchhalterin fallen, eine
Zeitung kaufe ich nicht, denn diese Ausgabe besitze ich schon.
    Als sie in andere Abteils weitergezogen
sind, ist es relativ still, bis zur nächsten Haltestelle, an der ein weiterer
Bedürftiger zusteigt. Es nimmt kein Ende. In einem Land, dessen Präsident
lieber Krieg spielt als sich dem Problem der Armut zu widmen, gibt es wenig
Hoffnung für diese Leute.
    Der Schaffner spricht über den
Lautsprecher. Er könnte ebensogut in einer Fremdsprache reden, denn die Anlage
im Verein mit seiner Aussprache machen es unmöglich, ihn zu verstehen. Ich
weiß, daß die Ankündigung sich auf die kommende Station bezieht und welchen Zug
man nehmen muß, um zu welchem Ziel zu gelangen, allerdings nur, weil ich New
Yorkerin bin. Ich möchte wissen, was die Touristen davon halten.
    An der nächsten Haltestelle steigt der
dicke Mann neben mir aus, und zwei Frauen mit Kind nehmen seinen Platz ein.
    Das einundzwanzigste Jahrhundert ist
angebrochen, als ich an meinem Zielort anlange. Ich steige aus dem Wagen, und
der gewohnte Schwall von Körpergerüchen und Uringestank, heute kombiniert mit
nassem Hund, läßt mich kurz taumeln.
    Als ich die Stufen hochgehe, spüre ich
eine Hand an meinem Hintern. Ich fahre herum. Hinter mir geht ein
gutgekleideter Mann, der mich ansieht, als sei er verärgert, weil ich den Strom
der Kletterer aufhalte. Ich blicke ihm direkt in die Augen.
    »Was ist?« sagt er zu mir.
    »Wagen Sie das nicht noch mal.«
    »Was denn?«
    »Mich anzufassen.«
    »Soll das ein Witz sein?« sagt er, als
sei ich es nicht wert, von ihm begrapscht zu werden.
    Hinter ihm fangen andere an, sich
lautstark zu beschweren.
    Es besteht immerhin die Möglichkeit,
daß es ein Versehen war, dennoch lasse ich den Mann in den Genuß einer meiner
wirksamsten Passen-Sie-bloß-auf-Blicke kommen, drehe mich um und gehe weiter.
Kurz darauf macht er es wieder. Diesmal ist ein Irrtum ausgeschlossen, denn er
hat richtig zugelangt und mich gekniffen. Ich wirble herum.
    »Hör zu, du mieser Kerl«, sage ich,
»möchtest du eingesperrt werden?«
    Er blinzelt mit unschuldigen grauen
Augen. »Lady, ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagt er gelassen.
    Leute kommen die andere Treppe hinunter
und starren uns an, als die Menge hinter dem Täter zu schnattern beginnt wie
eine wütende

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