Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
haben. Immer im Dezember.
Was hilft es? Ich muss weitermachen. Durch Wissen reinigen. Den Schmutz loswerden, die Sache nicht begraben, auch wenn der Onkel begraben ist. Sich lange damit beschäftigen kann nicht lange genug sein. Doch die Antworten müssen wir uns selber geben. Das merke ich in Gesprächen, die wir in der Familie führen. Wir erzählen uns, was war. Wir erzählen uns von unserem Entsetzen. Wir erzählen von der Traurigkeit. Nicht jeden Tag, aber immer wieder. Es ist etwas, worüber wir wohl immer reden werden. Vielleicht reden wir es uns so von der Seele. Jeder stellt sich an die Seite des anderen. Nur so ist das auszuhalten.
Der Onkel war kein »Gentleman IM«, kein Opfer des politischen Systems, er war überhaupt kein Opfer. Er war ein Täter, ein politisch überzeugter Täter, auch wenn mit ihm Aussprachen »zu seinem unparteilichen und mit der Zusammenarbeit mit dem MfS im Widerspruch stehenden Verhalten« geführt wurden. Vorwürfe waren unter anderem »Dekonspiration gegenüber Organen des Zolls und der VP«, dass er »äußerst interessante Fakten nicht oder nur teilweise berichtet hat« oder dass er sich für einen Genossen »unverantwortlich« verhielte, weil er Interna aus Parteiversammlungen weitergegeben hatte, auch an seinen Bruder. Ziel der Aussprache 1978, die sein Führungsoffizier Major Salatzki und Oberstleutnant Horst Kuschel mit dem Onkel hatten, bestand darin, »eindeutig zu klären, ist der IM ›Schäfer‹ zukünftig für eine ehrliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem MfS auf der Grundlage eines parteilichen Standpunktes bereit, oder wenn es im Ergebnis der Aussprache das Verhalten des IM erfordert, eine Zusammenarbeit zu beenden«. Allerdings deuteten sie auch an, welche Konsequenzen das haben würde, dass die Möglichkeit bestünde, »das Gerücht über seine Verbindung zum MfS neu zu beleben« und dass sie seine Vergehen der Arbeitsstelle melden würden, die da wären: »kriminelle Delikte – schwere Zollvergehen, Verhalten der VP gegenüber, Übergabe der Aufzeichnungen an die S. Kirsch«. Während einer internen Parteiversammlung, in der es um Probleme der Kulturpolitik ging, hatte sich der Onkel nämlich heimlich Notizen über das Gesagte gemacht. Er hatte die Notizen Sarah Kirsch gegeben. Nur wenige Monate nach der Ausbürgerung Biermanns war das brisanter Stoff. Das waren Interna. Sarah Kirsch gab die Notizen weiter, an Klaus Schlesinger, an Günter Kunert. Die Notizen gelangten in die Bundesrepublik und wurden in der Zeit abgedruckt. Des Onkels Spekulation, dass Sarah Kirsch die Notizen weitergeben würde, war aufgegangen. Als er sich wegen dieser Tat rechtfertigen musste, zog er sich aus der Affäre: »Als Begründung dafür, warum er diese Aufzeichnungen der Kirsch zur Kenntnis gegeben hat, gab der IM an, daß er damit seinen Kontakt zur Kirsch im Interesse des MfS festigen und ihr zeigen wollte, daß er zu ihr Vertrauen hat.« Das wurde ihm abgenommen. Ermahnt wurde er trotzdem.
Er suchte Sarah Kirsch auftragsgemäß auf. Sie bedauerte, dass er jetzt möglicherweise Schwierigkeiten bekommen würde. Riet ihm zu leugnen, sollte es zu Aussprachen kommen, es gebe ja keine Beweise. Der Onkel wusste die Gunst der Stunde noch anderweitig zu nutzen. »Bei dem Gespräch am 2.6.77 gab der IM ihr zu verstehen, daß er aufgrund seines Urlaubs gegenwärtig finanzielle Schwierigkeiten hat und nicht alle Verpflichtungen realisieren kann. Die Kirsch übergab dem IM sofort 100,-- M mit der Bemerkung ›Nimm und vergiß es‹. Der IM hatte den Eindruck, daß sie erfreut darüber war, sich ihm gegenüber erkenntlich zu zeigen.«
Jetzt aber, auf die Vermutung, der Onkel unterhalte »die Verbindung zum MfS in erster Linie aus rein persönlichen Gründen zur Rückendeckung bei von ihm begangenen Verfehlungen«, erklärte er, die Zusammenarbeit mit dem MfS entspräche seiner politischen Überzeugung. »Ohne diese Überzeugung hätte er nicht in eine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS eingewilligt. Für ihn gibt es in dieser Zusammenarbeit keine Tabus und er hat auch in der Vergangenheit über alle das MfS interessierenden Fragen ohne Vorbehalte berichtet. Er ist auch bereit, in Zukunft mit dem MfS zu arbeiten und über alle Probleme ohne Rücksicht auf bestimmte Personen zu berichten.«
Der Onkel wollte sich aber auch mit seinem Führungsoffizier gut stellen. »Birds of a feather flock together«, denke ich. Einen, der ihm nicht das Wasser hätte reichen können,
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