Immortal. Dunkle Leidenschaft
freiwillig alles zu erzählen. Normalerweise sollte es nicht einmal direkter Manipulation bedürfen, nur einer zarten Anregung, so dass sie ohne Angst mit ihm redete und seine Fragen beantwortete. Doch immer wieder entzog Amber sich seinem Einfluss, und er fragte sich, wie das möglich war.
Von seinen Brüdern besaß er als Einziger diese Macht – jeder von ihnen hatte ein Talent, das den anderen fehlte –, und er nutzte sie, um Menschen entweder zu beschwichtigen oder ihnen Informationen zu entlocken. Es half natürlich, dass er nicht geschaffen war, unter Menschen zu leben. Er kam, wenn er gerufen wurde, tötete das, was immer sie bedrohte, und verschwand, ohne eine Belohnung einzufordern.
Zumindest war es so vorgesehen. Adrian und seine Brüder hatten jedoch schnell entdeckt, dass es Spaß machte, nach der Schlacht noch ein wenig zu verweilen, bei der Siegesfeier zu tanzen und die unausgesprochenen Angebote junger Frauen anzunehmen. Adrian trank gern Wein, unterhielt sich mit dankbaren Leuten und teilte ihre Freude darüber, dass die schwarze Magie ihnen heute Nacht nicht die Kinder wegnehmen oder die Welt einen weiteren Tag lang unzerstört bleiben würde.
Während der letzten siebenhundert Jahre, seit er Tain verloren und beschlossen hatte, nicht nach Ravenscroft zurückzukehren, wo die Unsterblichen lebten und trainiert wurden, hatte er sich in der Welt der Sterblichen aufgehalten. Allerdings verweilte er nie länger an einem Ort, sondern ging rechtzeitig, ehe den Menschen auffiel, dass er überhaupt nicht alterte. Doch auch nach all der Zeit unter Menschen war er nicht wie sie geworden. Er blieb außerstande, in ihre Welt der Familien und engen Freundschaften einzutreten. Nach wie vor war er ein Außenseiter, der zu niemandem außer seinen Brüdern eine Beziehung aufbauen konnte, und selbst von ihnen war ihm eigentlich nur Tain wirklich nahe gewesen.
Er blickte wieder auf die Seite vor sich. Auf dem schlichten Papier waren mit Kugelschreiber Lettern nachgezeichnet, die so alt und mächtig waren, dass sie nicht einmal Namen besaßen. Und obwohl er die Worte nicht entziffern konnte, hatte er eine Ahnung, was sie bedeuten könnten, und es gefiel ihm gar nicht.
Dann sah er wieder zu Amber auf: ein niedliches Gesicht und braune Augen, die jede seiner Bewegungen beobachteten. Rote volle Lippen, die sich an ihren Teebecher legten, und eine Stirn, die sich kaum merklich kräuselte, als sie von dem heißen Getränk nahm. Ambers Finger waren lang und schmal, und unweigerlich überlegte Adrian, wie es sich wohl anfühlte, wenn ebendiese Finger seinen Körper erkundeten.
Als Amber die Küche verlassen hatte, um die Papiere zu holen, knurrte die Werwölfin ihn an, sollte er auf einen One-Night-Stand mit Amber abzielen, also ihre Trauer ausnutzen, würde Sabina ihm die Kehle durchbeißen. Das meinte sie ernst, und als Werwölfin würde sie es wohl auch tun – oder zumindest versuchen.
Sabina brauchte sich keine Sorgen zu machen. Ein One-Night-Stand mit Amber war nicht das, was Adrian vorschwebte. Eher vielleicht ein paar Monate auf einer tropischen Insel, wo er ihr zusah, wie sie im Meer schwamm und abends lachend mit ihm am Feuer saß. Wo beim Aufwachen die Sonne auf ihr Gesicht schien und nachts das Mondlicht ihren Körper umschmeichelte.
Nein, kein One-Night-Stand, sondern eine sehr lange gemeinsame Zeit, die jede einzelne Stunde wert war.
Er drang in Sabinas Denken vor und brachte sie auf die Idee, sie allein zu lassen.
»Ich sollte gehen«, sagte Sabina prompt. Amber blickte sie verwundert an, doch Sabina schob ihren Stuhl zurück, stellte ihren Becher in die Spüle und ging zur Tür. »Ich bleibe heute Nacht hinter unseren Häusern und halte die Augen auf. Falls du mich brauchst, ruf einfach oder schrei, dass die Wände wackeln. Ich bin sofort bei dir.« Sie warf Adrian einen letzten finsteren Blick zu und verschwand.
Adrian trank seinen Kaffee aus und stellte den Becher beiseite. »Ich muss unter die Dusche. An mir klebt getrocknetes Dämonenblut.«
Amber war sichtlich verwirrt ob des plötzlichen Themenwechsels. »Wohnst du in einem Hotel? Soll ich dich irgendwohin fahren?«
Er stand auf. »Nein, ich bleibe hier.«
»Ach ja?«, fragte sie. Offensichtlich hielt sie diese Option für ausgeschlossen.
»Ich lasse dich nicht allein. Das Haus ist zwar gut geschützt, aber Dämonen sind einfallsreich. Deine Schwester starb wahrscheinlich deswegen«, er tippte auf die Papiere, »aber das musst du ja nicht
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