Immortalis
neben ihr und hielt ihre Hand. Staunend sah er zu, wie die letzten Kisten auf das haushohe Schiff verladen wurden.
«Es ist zu gefährlich», antwortete Sebastian. Die Worte wollten ihm kaum über die Lippen kommen.
Aber er wusste, wovon er sprach. Er würde wieder nach Konstantinopel zurückkehren. Sich in einen Scheich verwandeln, wie er es vor einem halben Jahrhundert schon einmal getan hatte. Dann würde er die Levante bereisen, die geschäftigen Städte dort – Beirut, Jerusalem, Damaskus und Bagdad – und die Berge und Wüsten dazwischen. Vielleicht würde seine Suche diesmal erfolgreich sein.
Der Erste Maat ließ das Fallreep einholen und die Leinen losmachen.
Thérésia umklammerte Sebastians Hand. «Komm zu mir zurück», flüsterte sie ihm ins Ohr.
Er nahm sie in die Arme und küsste sie, und dann kniete er nieder und küsste auch seinen Sohn.
«Ich werde mein Bestes tun.» Mehr konnte er nicht versprechen.
Und mit bebendem Herzen sah er, wie das Schiff die Segel setzte und das einzige wahre Glück davontrug, das er je gekannt hatte.
66
Mit vorgehaltener Waffe wurden sie aus dem Haus geführt – Kirkwood, Corben und der mochtar mit seiner Familie. Der Himmel war violett und grau gesprenkelt, schaumige Wolken trieben über den Horizont, beleuchtet von der untergehenden Sonne.
Der Friedhof lag am anderen Ende des Dorfes. Schlichte Grabsteine drängten sich um den masar , das kleine, kegelförmige Totendenkmal, das in dieser Gegend üblich war. Der mochtar führte sie über das unwegsame Gelände zu einem kleinen Grabstein. Dort blieb er verdrossen stehen und deutete auf das Grab.
Kirkwood kniete nieder und betrachtete das alte Grabmal. Der schlichte Kalkstein ragte kaum aus dem Boden. Er war glatt bis auf eine kleine, kreisförmige Gravur in der Mitte. Kirkwood streckte die Hand aus und wischte Moos und Staub zur Seite. Der Kopf der Schlange trat deutlicher hervor, aber die restlichen Details waren vom Zahn der Zeit zerfressen.
Darunter sah er noch etwas. Er strich mit den Fingern über die gemeißelte Schrift und säuberte sie.
Es war ein Datum in arabischen Ziffern.
«Achtzehnhundertzwei», las Kirkwood mit hohler Stimme.
Sein Mund war trocken, und das Gefühl eines unendlichen Verlustes überwältigte ihn.
Hier also war seine Reise zu Ende gewesen.
Die Stimme des Hakim drang durch den Sturm seiner Gefühle. «Achtzehnhundertzwei», wiederholte er nachdenklich. «Mein Vorfahre starb siebzehnhunderteinundsiebzig. Kein großer Unterschied, könnte man sagen. Aber da ist noch eine Kleinigkeit zu bedenken. Unsere Ahnen begegneten einander in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, um siebzehnhundertfünfzig. Damals schien Ihr Vorfahre, so jedenfalls geht es aus di Sangros Tagebuch hervor, etwa so alt zu sein wie er selbst, also knapp vierzig. Das heißt, dass er bei seinem Tode – hm, fast hundert Jahre alt war. Aber die Sache ist die: Mein Vorfahre starb als alter Mann. Ihrer dagegen … tja, der Überlieferung zufolge war der Mann, der da vom Berg herunterkam und hier starb, kein alter Mann. Er war allein von diesem Berg herabgestiegen, zu Fuß. Und er starb am Fieber, nicht an Altersschwäche. Daran hat der mochtar keinen Zweifel gelassen. Und das bedeutet entweder, Ihr Vorfahre hat dort oben etwas gefunden, das ihn jung hielt, oder – und das ist die Erklärung, die ich bevorzuge – er hatte die Formel jahrelang benutzt. Das hat der Principe ebenfalls vermutet. Aber Sie haben gesagt, er habe nicht die vollständige Formel besessen. Das finde ich verwirrend. Er hat Frau und Kind aufgegeben und ist in diese entlegene und gefährliche Weltgegend gereist, um etwas zu suchen, das er schon hatte?»
Kirkwood erstarrte. «Er hatte es nicht.»
Der Hakim kam bedrohlich einen Schritt näher, und sein Blick wurde finster. «Wissen Sie was? Ich glaube, Sie lügen. Ich glaube, er hatte es», sagte er bissig. «Ich glaube, mein ruhmreicher Ahne hatte die ganze Zeit recht. Ich glaube, Sebastian Guerreiro benutzte die Formel, um ein außergewöhnlich langes Leben zu führen. Und», fügte er wütend hinzu, «ich glaube, Sie tun das Gleiche.»
Kirkwood hatte Mühe, seinen Zorn zu unterdrücken. «Sie wissen nicht, wovon Sie reden», sagte er mit fester Stimme.
Er spürte Corbens Blick in seinem Nacken, aber er wagte nicht, sich umzudrehen. Der Hakim beobachtete ihn zu genau.
«Ach, wirklich?», antwortete der Hakim eisig. «Das werden wir ja sehen.»
Er bellte seinen Männern einen Befehl zu.
Weitere Kostenlose Bücher