Immortalis
Thérésia ausgeritten und immer noch unterwegs waren. Er hatte dem Jungen kürzlich sein erstes Pony gekauft, und Thérésia machte es Freude, ihren Sohn in den kleinen Sattel zu heben und ihn um den See des Anwesens herumzuführen. Aber Sebastian wusste, dass sie niemals so lange fortblieben – nicht um diese Jahreszeit, nicht, wenn die Sonne hinter den Bergen so rasch versank und die Kälte der Nacht schnell heraufzog.
Ohne sich weiter um sein Pferd zu kümmern, lief er die abschüssige Wiese hinunter, immer schneller, durch die Oliven- und Zitronenhaine. Das Herz gefror ihm, als er zwischen den Bäumen hervorkam und das Pony erblickte, das unschuldsvoll und ganz allein graste. Er lief zu ihm hin, suchte mit panischem Blick das Ufer des Sees ab und entdeckte Thérésia, die hundert Schritte weiter ausgestreckt am Boden lag. Miguel saß ganz in der Nähe auf einem Felsen neben einem Mann, dessen Haltung Sebastian selbst aus der Ferne klar erkannte.
Der Mann stand auf, und seine Finger hielten die kleine Hand des Jungen fest umklammert. Sebastian stürzte auf Thérésia zu. Gottlob atmete sie noch. Er sah kein Blut, keine Verletzungen. Sie war nur benommen. Sebastian nahm an, dass di Sangro sie niedergeschlagen hatte, um ihr den Jungen zu entreißen.
«Miguel», murmelte sie angstvoll, als sie sich unter Sebastians Händen zu regen begann.
Er riss sich den Mantel herunter und schob ihn unter ihren Kopf, bevor er sich aufrichtete, um seinem Verfolger entgegenzutreten.
Di Sangros Gesicht und seine gebückte Haltung legten Zeugnis von Jahren der Trauer und Frustration ab. Seine Schultern hingen, sein dichtes Haar war ergraut, seine Haut faltig und fahl. Der hochgewachsene, geschmeidige, habgierige Principe von Neapel war verschwunden. Stattdessen stand da dieser gebeugte Mann, zerfressen von Zeit und Besessenheit. Nur die Gier in seinen Augen war nicht matter geworden.
«Lassen Sie den Jungen los», fauchte Sebastian.
Di Sangro rührte sich nicht. «Sie schulden mir etwas, marquese. Occhio per occhio, dente per dente .» Er zog einen Dolch aus dem Gürtel und hielt ihn an die Wange des Jungen.
Sebastian verstand. Di Sangros Sohn hatte die Verwundung nicht überlebt, die er ihm an jenem Abend auf der Île de la Cité beigebracht hatte.
« Sie sind mir gefolgt», rief Sebastian laut. Er bemühte sich vergebens, seine Wut im Zaum zu halten. « Sie haben Ihren Sohn in Gefahr gebracht.»
«Ganz so, wie Sie Ihren eigenen Sohn in Gefahr gebracht haben, indem Sie mich abgewiesen haben», erwiderte di Sangro.
Sebastian trat einen Schritt vor. Sofort packte di Sangro den Jungen fester und drückte ihm die Klinge an die Wange.
« Tranquilo, marquese », warnte er. «Das ist nah genug.»
Sebastian blieb stehen und hob beruhigend die Hände. «Es tut mir leid um Ihren Sohn», sagte er mit aufrichtigem Bedauern und ließ di Sangro nicht aus den Augen. «Aber lassen Sie meinen Jungen los. Ich bin derjenige, den Sie haben wollen.»
«Ich habe keine Verwendung für Sie», schnarrte di Sangro erbost. «Ich will nur Ihr Wissen. Sagen Sie mir jetzt die Wahrheit, und vielleicht betrachte ich es als soldi di sanguine .» Als Blutgeld. «Vielleicht», fügte er wehmütig hinzu, «ist mein Sohn dann nicht umsonst gestorben.»
«Sie glauben noch immer, dass ich habe, was Sie suchen», sagte Sebastian beruhigend. Er hielt die Hände vor sich ausgestreckt und ging vorsichtig und gemessen auf den Fürsten zu.
«Ich weiß, dass Sie es haben –», setzte di Sangro an, aber dann stockte er plötzlich. Sebastian war jetzt nur noch fünf Schritte vor ihm, und mit jedem weiteren Schritt veränderte sich der Gesichtsausdruck des Fürsten. Verwirrung flackerte in seinen müden Augen, und prüfend betrachtete er Sebastians Gesicht.
Sein Mund stand ein wenig offen. «Sie … Sie sind gealtert?», fragte er. Seine Hand, die den Jungen hielt, lockerte ihren Griff, und er starrte Sebastian an.
Seine Augen täuschten ihn nicht.
An dem Tag, als Sebastian und Thérésia Paris zusammen verlassen hatten, hatte er aufgehört, dass Elixier einzunehmen. Er würde nicht mehr zurückschauen.
Der wiedergeborene Sebastian Botelho aus Lissabon würde welken und sterben wie jeder andere auch.
Er hatte diese folgenschwere Entscheidung niemals bereut, und in den seltenen Augenblicken der Unsicherheit und des Bedauerns brauchte er nur in das lachende Gesicht seines sechsjährigen Sohnes zu schauen, um gleich zu wissen, dass er keinen Fehler begangen
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