Imperator
Menschen hätten das Tal im Süden gegraben oder die Wolken gesponnen, die über ihm das Licht der Morgendämmerung einfingen.
»Hat hier auch vor dem Wall schon jemand gelebt?«
»Das weiß ich nicht. Jedenfalls niemand von Bedeutung, höchstens ein paar Barbaren. Zweihundert Jahre! Stell dir das vor.«
Lichter funkelten entlang der dunklen Linie des Walls, gelbe Feuerkleckse flackerten auf und erstarben.
Audax erschrak. »Was ist das? Ein Angriff?«
»Nein. Das sind Signalfeuer. Jetzt ist Wachwechsel. Überall am Wall beenden Soldaten ihren Dienst und zünden ihr Feuer an, damit ihre Kameraden sehen, es ist alles in Ordnung, alles in Ordnung …«
Sie blieben auf dem Wachturm, bis die Sonne aufgegangen war. Dann stiegen sie ins Kastell hinab und mischten sich unter das zunehmende Menschengewimmel des neuen Tages.
XII
Eine Woche nach Thalius’ Ankunft in Banna traf Konstantin mit seinem Gefolge ein – oder vielmehr mit einem Teil seines Gefolges; viele waren in Eburacum geblieben.
Konstantin ordnete sofort eine Truppenschau an. Diese fand an einem hellen, frischen Morgen statt, und Thalius und seine Begleiter sahen als Cornelius’ Gäste bequem von einem Pavillon aus zu.
Die Soldaten in ihren Zenturien traten in Reih und Glied außerhalb der Mauern des Kastells an. Die Standartenträger der Zenturien reckten die Embleme ihrer Einheiten in die Höhe, und jeder trug ein labarum . Dies war eine neue, angeblich von Konstantin selbst erfundene militärische Standarte, ein langer, vergoldeter Speer mit einer Querstange, die ihm die Form des Christenkreuzes verlieh. Die Spitze des Kreuzes bildete ein Kranz aus Gold und kostbaren Steinen mit einem fein gearbeiteten chi-rho -Christogramm darin.
Die Soldaten boten einen respektablen Anblick, obwohl Thalius sah, dass ihre Rüstungen und Waffen abgenutzt und vielfach ausgebessert waren – angeblich waren manche Ausrüstungsteile über Generationen
hinweg vom Vater an den Sohn vererbt worden. Nicht nur das, bei Tageslicht wirkten auch die Mauern des Kastells heruntergekommen. Das Kastell und seine Truppen waren schon seit Jahrhunderten hier; sie versanken allmählich im kalten nördlichen Schlamm, während die Grenzen zwischen den Soldaten und der Zivilbevölkerung, aus der sie rekrutiert worden waren, zusehends verschwammen.
Eines von Konstantins Projekten bestand darin, die bereits unter Diokletian eingeleiteten Heeresreformen zu festigen; sie spiegelten die militärische Realität des Zeitalters. Die frühere Unterscheidung zwischen Legionen und Auxiliareinheiten war aufgegeben worden. Jetzt setzte sich das Heer aus einer mobilen Feldstreitmacht und stehenden Grenztruppen wie hier in Banna zusammen. Es gab eine neue militärische Hierarchie von Herzögen und Grafen – dazu gehörten etwa der in Eburacum stationierte Herzog der britannischen Provinzen sowie ein Graf der Sachsenküste 1 , der Küstenfestungen wie Rutupiae kontrollierte. Früher waren die Statthalter Oberkommandierende der Truppen in ihren Provinzen gewesen, aber jetzt waren die Herzöge und Grafen unabhängig von den Statthaltern – tatsächlich umfasste ihr Zuständigkeitsbereich im Allgemeinen mehr als eine Provinz. Dies war ein weiteres Beispiel für die beharrliche Strategie der Kaiser,
Macht aufzuteilen und etwaige Rivalen auf diese Weise klein zu halten.
Thalius glaubte, die militärische Logik zu verstehen. Man hielt die Barbaren an der Grenze fern, und wenn sie doch einmal durchkamen, ließ man sie tief in ein von Befestigungsanlagen starrendes Land vordringen, während man seine mobilen Streitkräfte gegen sie zum Einsatz brachte. Selbst die ummauerten Städte gehörten in gewissem Sinn zum System. Aber Stagnation führte unweigerlich zum Verfall, und Grenztruppen wie diese neigten dazu, außer Form zu geraten und ihre Disziplin einzubüßen. Thalius hatte lebhafte Gerüchte über Korruption gehört, über befehlshabende Offiziere, die Sold für längst tote Soldaten bezogen. Es war ganz gut, dass der Kaiser gekommen war, um alles ein bisschen auf Vordermann zu bringen.
Und es war ein großer Tag für diese Soldaten, eine Gelegenheit, die lebenslängliche Langeweile des Grenzdienstes mit einer Demonstration vor dem Kaiser persönlich aufzubrechen. Jeder wusste, dass Konstantin hier war, um nach Einheiten Ausschau zu halten, die er für den sich abzeichnenden Krieg gegen Licinius, den Ostkaiser, abziehen konnte. Viele der Soldaten, die hier in ihrem Kastell aufgewachsen waren,
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