Imperator
Cuneddas Haus. Seine Schwester und seine Tante wohnten hier. Auf Cuneddas Ruf kamen zwei hässliche Hunde von dem kleinen Stück Land hinter dem Haus um die gerundete Mauer geschossen. Sie sprangen an ihm hoch und leckten ihm das Gesicht ab, und er ließ es sich gefallen; er empfand ganz offensichtlich eine schlichte Freude über die Zuneigung der Hunde.
Agrippina beobachtete ihn und verspürte einen Stich im Herzen. »Die Hunde machen ihn glücklich.«
»Er hat ebenfalls gelitten, Agrippina«, sagte Nectovelin leise.
»Wenn ich nicht in Cuneddas Armen gelegen hätte, wäre ich bei Mandubracius gewesen. Ich hätte ihn vielleicht daran gehindert, an den Strand zu gehen.«
»Hätte, würde, wäre, wenn. Du konntest es nicht wissen, Pina. Auch ohne Cunedda wäre es vielleicht auf dasselbe hinausgelaufen. Das ist schwer für dich, schwerer als für j eden von uns. Nicht nur, weil du Mandubracius verloren hast. Binnen kürzester Zeit ist aus deiner Bewunderung für Rom und deiner Überzeugung, dass die Römer niemals hierher kommen würden, leidenschaftlicher Hass geworden. Du darfst weder dir noch Cunedda an irgendetwas von alledem die Schuld geben. Deine Liebe zu Cunedda wird dir jetzt bei all dem helfen.«
»Wirklich? Ich glaube, ich hasse den Römer, der Mandubracius getötet hat, mehr, als ich Cunedda liebe
– obwohl ich nicht einmal sein Gesicht gesehen habe. Ich hasse das Römische in mir mehr, als ich ihn liebe. Klingt das für dich vernünftig?«
»Durchaus. Aber wer lässt sich schon von der Vernunft leiten? Komm. Bevor wir uns mit den Fürsten befassen, sollten wir nach Möglichkeit etwas essen, uns waschen und ein bisschen schlafen.«
Sie reichte ihm die Zügel ihres Pferdes. »Nectovelin – was wird mit uns geschehen, wenn die Römer kommen?«
»Das hängt davon ab, welche Entscheidung die Fürsten treffen. Und vermutlich auch davon, wie sie sich hinterher verhalten. Aber im tiefsten Inneren weiß ich, dass wir auf lange Sicht siegen werden.«
Sie starrte ihn an. »Woher willst du das wissen? … Oh. Deine Prophezeiung.«
»Ich trage sie immer bei mir.« Er schlug sich mit der geballten Faust auf die Brust. »Obwohl sie vor einem halben Jahrhundert niedergeschrieben wurde, spricht sie von der Ankunft der Römer. Aber sie spricht auch von Freiheit, Agrippina. Und das ist es, was mich leitet.«
Sie ärgerte sich über das widernatürliche Vergnügen, das er bei all dem empfand. Während Agrippina seit der Landung der Römer in Verwirrung und Elend gestürzt und die Einwohnerschaft Camulodunums in Angst und Schrecken versetzt worden war, schien Nectovelin gewachsen zu sein und klarer denken zu können. Endlich waren die Römer gekommen; dazu war er geboren worden.
Doch selbst jetzt verspürte sie noch einen leisen Funken Neugier. »Deine Prophezeiung – spricht sie wirklich von der Zukunft? Verspricht sie uns im Ernst die Freiheit? Wenn du mir nur erlauben würdest, sie zu lesen …«
»Meine Kehle ist trockener als Coventinas räudiger Ellbogen. Ich brauche etwas zu trinken, und du auch. Danach reden wir über die Zukunft und auch über einen Krieg gegen Rom.«
VIII
In dieser Nacht fand Agrippina endlich Schlaf. Sie war so erschöpft, dass nicht einmal ihre sorgenvollen Gedanken sie noch wach halten konnten.
Nicht lange nach Anbruch der Morgendämmerung stand sie auf und folgte Cunedda und Nectovelin zu der Halle, die nach wie vor »Cunobelins Haus« hieß.
Der mächtige Rundbau war so groß, dass die Hälfte der Stadtbevölkerung darin Platz gefunden hätte. Das Tragwerk des gewölbten Dachs bestand aus dem Holz hundertjähriger Eichen. Es gab wenige ornamentale Verzierungen, ein paar Bossen, die die Maske des Kriegsgottes Camulos oder das Siegel Cunobelins trugen – und hier und da die drei lateinischen Buchstaben »C-A-M«, mit denen der König seine Münzen gekennzeichnet hatte. Agrippina vermutete, dass nur wenige hier die Buchstaben als etwas anderes als ein Symbol für Cunobelin verstehen würden.
Alles an dem gewaltigen Haus trug die Handschrift dieses klugen Königs. Dank seines Handelsverkehrs mit Rom war der alte Bär reich genug geworden, um römische Architekten und Maurer ins Land zu holen und sich, wenn er es gewollt hätte, einen steinernen Palast bauen zu lassen. Immerhin hatte er sich erlaubt, das
Badehaus seines Vaters zu renovieren. Aber da er um die Sensibilität seines Volkes gewusst hatte, hatte er auch dieses Bauwerk errichten lassen, ein Haus in seiner
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