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Imperator

Imperator

Titel: Imperator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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Aber weiter weg, dort, wohin die Römer, ihre Händler und ihre Kultur erst noch vordringen mussten, herrschten ältere Traditionen. Bei ihrem eigenen Volk, den Briganten, maß man seinen Reichtum nicht in Münzen, sondern nach der Anzahl der Rinder, die man besaß. Man aß aus Holzschüsseln, nicht aus Tonschalen. Man lebte inmitten riesiger Steingräber, Relikten der Vergangenheit. Und am Feuer lauschte man Geschichten über Steinzeitkönige oder Kaiser aus den Zeiten von Kupfer und Zinn, ferne Vorfahren, die einst das Land regiert hatten, deren Reichtümer und Herrschaftsgebiete j edoch mit dem Aufkommen des Eisens spurlos verschwunden waren.
    Als Agrippina lesen gelernt hatte, waren ihr Zweifel am Wahrheitsgehalt der Familiengeschichten gekommen, die sie während ihrer ganzen Kindheit gehört hatte. Wie konnte an solchen alten Geschichten
etwas Wahres sein, wenn sie niemals niedergeschrieben worden waren? Aber die Geschichten wurden einer Zuhörerschaft vorgetragen die sie ebenso gut kannte wie die Erzähler; sie wurden immer aufs Neue weitergegeben, und in diesem Vorgang des Erzählens selbst wurde die Wahrheit der Geschichten gepflegt, von einer Generation zur nächsten. Darum war sie mit der wahren, weit zurückreichenden Geschichte ihres Volkes aufgewachsen. Britannien war ein uraltes Land voller tiefer kultureller Wurzeln. Und als Braint ohne bewusste Überlegung einen Stein aufgehoben und ein Werkzeug daraus gemacht hatte, hatte sich darin eine Tradition gespiegelt, die viel älter war als Rom.
    Doch nun waren die Römer hier, und ihre Armee war wie eine eiserne Axt, die sich in den Stamm eines uralten Baumes grub. Was immer die nächsten paar Tage bringen würden, nichts würde mehr so sein wie bisher, nie wieder – und Agrippina war hier und erlebte es mit. Diese größere Perspektive schüchterte sie ein, obwohl ihr Rachedurst weiterhin brannte.
    Die Sonne ging unter, die Luft kühlte sich ab, und auf der glänzenden neuen Straße hatte sich schon eine ganze Weile nichts mehr getan.
    »Komm, wir kehren zum Lager zurück.« Braint streckte sich und zuckte zusammen, als sich ihre Wunde erneut schmerzhaft bemerkbar machte. Agrippina half ihr auf die Beine.
    Im zunehmenden Zwielicht schlugen die beiden den Weg durch verlassene Gehöfte zu Caratacus’ Lager ein.

XI
    Narcissus und Vespasian entfernten sich von dem staubigen Chaos, das die Soldaten beim Aufbau des Lagers in der Nähe des Flussufers anrichteten. Am Nachmittag dieses heißen Tages schwitzte Narcissus ebenso stark wie das Pferd unter ihm. Wie immer war es jedoch eine Erleichterung, der Armee für eine Weile zu entkommen; nach einem weiteren Marschtag produzierten Zehntausende von Männern und ihre Tiere einen infernalischen Gestank.
    Sie hielten auf ein kleines Stück höher gelegenen Geländes zu, einen Hügelkamm. Narcissus’ Pferd suchte sich vorsichtig seinen Weg über kalkhaltiges, mit Feuersteinen übersätes Erdreich, das Narcissus neugierig betrachtete. Überall im nördlichen Gallien hatte er fast identisches Gelände gesehen. Es schien, sann er, als wären Gallien und Britannien in Wirklichkeit eine einzige Landschaft, zerteilt von einem Streifen Meer, so wie das Messer eines Chirurgen eine Gliedmaße amputierte. Es war ein faszinierender Gedanke, aber er hatte keine Ahnung, wie solch gewaltige Veränderungen in der Struktur der Erde vonstatten gegangen sein könnten. Vielleicht war Britannien ein Relikt von Atlantis, dachte er, oder übrig gebliebener
Bauschutt aus der Urzeit, als Riesen die Erde gemacht hatten.
    Vom Kamm aus schauten sie nach Westen, zum Fluss und den in der Nähe des Ufers herumwimmelnden Soldaten. Oberhalb der Furt war binnen weniger Stunden eine Festung für die Nacht entstanden, obwohl die Männer nach einem Marschtag mit schwerem Gepäck wie üblich murrten – aber Soldaten beklagten sich immer, sagte Vespasian. Die rechteckige Festungsanlage wurde von einem Graben und einem niedrigen Erdwall begrenzt, den eine Palisade aus rasch in einem nahe gelegenen Gehölz gefällten und angespitzten Baumstämmen krönte. Im Inneren wurden die Lederzelte der Legionäre in den üblichen Reihen errichtet. Von einem Dutzend Feuer stiegen bereits Kochdünste empor, und selbst das Ausheben der Latrinen war eine durchorganisierte Arbeit.
    Als Narcissus weiter nach Westen schaute, über den glänzenden Flusskörper hinweg, sah er eine andere Streitmacht, die sich am gegenüberliegenden Ufer ballte. Das waren die Britannier,

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