In allertiefster Wälder Nacht
geht’s wäre ein Foto von meiner besten Freundin, die mit meinem Freund flirtet, nur, weil sie sich gelangweilt hat. Heute, jetzt, in diesem Moment wäre es eine Aufnahme, bei der sich der Fotograf vielleicht aus einer offenen Hubschraubertür lehnt, ganz hoch oben, sodass ein bisschen Angst darin mitschwingt, und ganz, ganz weit unten ein Mädchen, das winzige Spuren im Wald macht und immer noch die Flucht im Sinn hat.
Das Würgen klettert wieder in der Kehle hoch. Wenn ich nicht auf mich zählen kann, was hab ich dann? Ich fühle mich schwach. Blöd. Verlegen. Beschämt.
Meine Mutter. Meine arme, besorgte Mutter. Am Telefon klang sie so klein. So fertig. In diesem Ton hat sie nach dem Unfall im Krankenhaus mit mir gesprochen. Süß und sanft, wie damals, als ich klein war und ich mich nachts gefürchtet habe. Dr. Lang war ein Fehlgriff. Das hat sie gesagt. So als ob ein Mitternachtslauf durch die eiskalten Wälder Teil seines Therapieplans gewesen wäre. So als ob irgendjemand anders als ich schuld sei, schuld sein müsse. Scham erhitzt mein Gesicht. So was würde ihr nie passieren. Wie hab ich nur so ein Wrack werden können? Das hab ich bestimmt nicht von ihr.
Ich laufe an der Stelle vorbei, an der ich mit dem Rad an den Baum geknallt bin, an der ich Cal begegnet bin. Dann laufe ich weiter und immer weiter durch den strahlend hellen Wald, bis ich sein Haus erreiche. Es wirkt verlassen. Susanna ist weg. Wie er gesagt hat. Und er ist bei mir geblieben.
Alltag
Mein Dad und Zara erwähnen das schreckliche Mittagessen mit keinem Wort. Vielleicht steht mir die Scham ins Gesicht geschrieben, jedenfalls benehmen sie sich beide, als sei alles in Ordnung, vergessen. Wir beginnen damit, zusammen zu Abend zu essen, zu dritt, manchmal auch zu viert, mit Cal. Dann zieht Zara ein. Nach und nach. Jeden Tag, wenn sie mit der Arbeit im Atelier fertig sind, nehmen sie Dads Truck und fahren zu ihrer Wohnung und holen ein paar von ihren Sachen. Kleider, ein paar Bilder, einen Stuhl. Sie macht das ganz vorsichtig, meinetwegen. Fragt mich, ob es mir was ausmachen würde, wenn sie ein bisschen Ordnung schaffe, hier und da was aufräume, die Möbel im Wohnzimmer umstelle. Tu dir keinen Zwang an, sage ich. Wir sind höflich miteinander.
Sie ist Frühaufsteherin, und wenn ich aufstehe, sitzt sie mit der Zeitung am Tisch, Kaffee für mich und Frühstück. Sie kocht gern und sie macht das gut. So viel hab ich noch nie gefrühstückt. Die ersten Tage lasse ich das Frühstück aus, aber dann klopft sie immer an meine Tür und fragt, ob ich mich nicht zu ihr setzen will, zu Bohnen und Eiern oder was sonst morgens auf ihrer Speisekarte steht. Quiche, Cr ê pes, selbst gemachtes Fruchtkompott – es ist jeden Tag was Außergewöhnliches.
Zuerst kann ich sie kaum ansehen, wenn wir uns allein gegenübersitzen. Es ist mir so peinlich, dass sie da ist. Weswegen sie da ist. Wie ich auf die Nachricht reagiert habe. Aber Dad frühstückt nicht, wir beide sind also allein. Meine Augen kleben an der New York Times , aber eigentlich will ich gar nicht sehen, was drinsteht. Die schrecklichen Nachrichten aus aller Welt. Es ist still, angespannt. Für mich jedenfalls.
Nach etwa einer Woche sage ich: »Tut mir leid, dass ich so eine riesige Nervensäge gewesen bin …«
Sie gehört zu diesen Leuten, die einen total ruhig angucken, was mich immer nervös macht oder zum Weinen bringen könnte.
»Ach was«, sagt sie sehr sachlich und macht sich über ihre Grapefruit her. Grapefruit und selbst gemachter Joghurt. Ich wusste nicht mal, dass man den selber mache n kann, wenn man keine Ziege hat.
Sie schüttelt den Kopf. »Du bist keine Nervensäge. Im Gegenteil. Ich finde, du tust ihm gut. Uns. Hast alles ein bisschen aufgemischt. Er war ziemlich festgefahren in seinen Gewohnheiten.«
Das ist überraschend.
»Wie lange kennst du meinen Dad schon?«
»Meinst du, wie lange wir schon zusammen sind?« Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Du kannst mich einfach fragen, weißt du. Frag, was immer du wissen willst. Er ist dein Dad.«
»Okay. Wie lange bist du schon mit meinem Dad zusammen?«
»Ungefähr fünf Jahre.«
Fünf Jahre. Nicht zu fassen.
»Hat er mir nicht erzählt.« Ich schiebe die Zeitung weg, gucke raus zur Sonne auf dem Wasser. Mal wieder ein strahlend heller Tag hier oben.
»Ich weiß. So ist er. So sind wir beide. Wir überstürzen nichts, alle beide. Doch wir hätten mit dir reden sollen, als du kamst. Ich wollte es. Ich wollte dich hier
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