In dein Herz geschrieben
einen Stuhl heran, ohne Hazel aus den Augen zu lassen. »Bitte, setzen Sie sich doch.«
May kam herbeigeeilt und begann, Cassandra mit den
Handtüchern trocken zu tupfen. »Oh Schatz«, sagte sie, »du hättest nicht kommen sollen. Du hättest umkommen können.« Sie drückte sie fest an sich. »Ich such dir etwas Trockenes zum Anziehen.«
Cassandra trat ans Spülbecken, um sich ein Glas Wasser einzuschenken, und wünschte, wenigstens eines der Fenster wäre nicht verbarrikadiert, so dass sie hinaussehen konnte. Sie wollte so gern sehen, wie Hector sich vom Dock herauf gegen den Wind stemmte, wollte die Tür aufreißen und ihn ins Haus ziehen, durchnässt, grinsend und lebend, mit einer tollen Geschichte, wie er dem Hurrikan Florence getrotzt hatte.
Chester drehte das Radio auf. Sie lauschten der Ankündigung des Meteorologen, es handele sich bei Florence lediglich um einen Hurrikan der Kategorie 2 mit Böen von gut hundertfünfzig Stundenkilometern und einem Auge, das aller Voraussicht nach gegen Mitternacht über sie hinwegzöge. Nur Kategorie 2. Gut hundertfünfzig Stundenkilometer.
Chester trat neben sie. »Es wäre vielleicht gut, etwas zu tun, damit alle auf andere Gedanken kommen, meinst du nicht auch?«
Cassandra warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Sie wollte nicht auf andere Gedanken kommen. Sie wollte genau hier stehen bleiben und vor Sorge beinahe verrückt werden. Was sollten sie seiner Meinung nach tun? Poker spielen? Wie konnte er auch nur daran denken, ein dämliches Spiel zu spielen, wenn Hector dort draußen war und vielleicht um sein Leben kämpfte?
Chester blickte auf seine Füße, und seine Wangen färbten sich rosa, während Cassandra wieder einfiel, wann er angefangen hatte, Karten zu spielen - im Krankenhaus, als er zusehen musste, wie seine Frau starb. Manchmal musste man sich an das klammern, was einem half, etwas durchzustehen. Beschämt legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Du hast
recht. Worauf habt ihr Lust? Jane Austen oder lieber Stephen King?«
»Für mich sieht es eher nach einem Stephen-King-Abend aus.« Chester zog ein Päckchen Spielkarten aus der Hosentasche und schwenkte sie. »Ich hätte Pfadfinder werden sollen. Allzeit bereit.«
»Ja, du hättest unter Garantie das Ehrenabzeichen bekommen.«
48
Sie hatten noch nicht lange gespielt, als der Strom ausfiel. Ein paar Minuten saßen sie im Dunkeln, warteten, ob das Licht wieder anging, ehe Walton eine Taschenlampe holte und sich auf den Weg in den Vorratsraum machte, um den Generator zu starten. So hätten sie ausreichend Energie, um den Kühlschrank und die Lampen zu betreiben, nicht aber den Herd und die Klimaanlage.
Während sich die anderen wieder dem Pokerspiel zuwandten, ging Cassandra ins Wohnzimmer. Sie wünschte, sie könnte die Haustür aufmachen und nach draußen sehen. Sie hatte noch nie erlebt, dass der Wind so ohne Unterbrechung tobte. Normalerweise kam er in Böen auf, doch nun war er zu einem lauten Dauerdröhnen angeschwollen.
Doris war auf dem Sofa eingenickt. Gott sei Dank, dachte Cassandra bei ihrem Anblick. Sie war so erschöpft.
Vor einer Weile hatte jemand aus dem Hafen angerufen und gesagt, Hector hätte sein Boot dort liegen lassen und sich einen Laster ausgeliehen, um nach Hause zurückzufahren. Er sollte längst hier sein. Sie ertrug diese Untätigkeit nicht, dieses ewige Warten und die bange Frage, wo er nur blieb, ob es ihm gut ging. Sie musste etwas unternehmen.
Cassandra trat zur Küchentür und bemerkte, dass Hazel und Chester sich offenbar ausgezeichnet verstanden. Sie hatte ihn noch nie so lebendig erlebt.
»Hazel, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mir den Laster noch mal ausleihe?«
»Nein«, rief May, »du kannst bei diesem Wetter nicht hinaus. Du wartest hier. Er kommt bald.«
»Ich kann nicht. Ich muss ihn suchen gehen. Irgendwas sagt mir, dass ich es tun muss.« Wenn es jemanden gab, der diese Art von Instinkt respektierte, dann war es May.
»Sie können ihn haben, solange Sie wollen«, meinte Hazel. »Soll ich mitkommen?«
Cassandra erwiderte das Lächeln. »Nein, danke. Und du, Walton, setz dich hin. Ich komme mir schon blöd genug vor, auch ohne dass ich jemanden in dieses Chaos hineinziehe. Ich fahre nur ein Stück die Straße hinauf und bin gleich wieder da.«
Annie Laurie stand auf. »Ich will mitkommen. Er ist mein Vater. Es ist meine Schuld.« Ihr Gesicht war noch immer gerötet vom Weinen, und sie sah schrecklich verloren aus.
Cassandra nahm sie in die Arme.
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