In dein Herz geschrieben
deshalb war sie umso erleichterter, als sie Ruth Anns erste Worte hörte. »Geht es dir gut?« Aber natürlich ließ sie dieser Frage eine detaillierte
Schilderung der Ereignisse folgen, nachdem sich Cassandra aus dem Staub gemacht hatte, mit dem Ergebnis, dass sich Cassandras schlechtes Gewissen augenblicklich zurückmeldete. Sie lehnte sich gegen das Kopfteil des Bettes und schloss die Augen. Natürlich hatte Dennis sich wie der perfekte Gentleman benommen, hatte nicht zugelassen, dass jemand ein schlechtes Wort über Cassandra verlor, und hatte sogar seine Mutter aufgefordert, den Mund zu halten. Bestatterroutine, genau das war es - zu einer tragischen Situation eine gute Miene zu machen.
Schließlich ertrug es Cassandra nicht länger. »Ruth Ann!«, sagte sie. »Es tut mir leid. Ich kann jetzt nicht darüber reden, okay?«
Ruth Ann strafte sie mit eisigem Schweigen. Zu schade, dachte Cassandra. Aber ihr blieb ja noch ihr restliches Leben, um darüber hinwegzukommen, wie ihre Mutter jetzt bemerken würde.
»Hast du mit Dennis geredet? Hast du ihm ausgerichtet, was ich dir gesagt habe? Wie leid es mir tut?«
»Er war nicht zu Hause. Aber ich habe eine Nachricht für ihn hinterlassen.«
O Gott, was, wenn er sie nicht bekommen hatte? Was, wenn er immer noch nicht wusste, dass sie angerufen hatte? »Ruth Ann, du musst unbedingt noch mal anrufen. Er muss erfahren, dass es mir gut geht. Sag ihm, dass ich den Wagen zurückschicke.«
»Ihn zurückschicken?«
Cassandra hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihr zu erklären, was sie vorhatte. »Na ja, ich dachte, A. J. könnte vielleicht mit meinem Wagen herkommen und mit der Limousine zurückfahren.«
»Wie bitte? Du kommst also nicht nach Hause?«
In der Stille konnte Cassandra beinahe hören, wie sich die Rädchen in Ruth Anns Kopf drehten, als sie versuchte, sich
einen Reim darauf zu machen. Viel Glück, Schätzchen, dachte sie. Das habe noch nicht einmal ich selbst geschafft.
»Und was willst du tun? Bei Tante May bleiben?«
Tolle Idee, dachte Cassandra. Wieso war sie nicht selbst darauf gekommen? Sie brauchte nur zu sagen, sie besuche für eine Weile ihre Verwandten. Tante May und Onkel Walton lagen ihr doch sowieso immer in den Ohren, sie besuchen zu kommen.
»Genau das werde ich tun.«
»Oh. Tja. Ich verstehe nur nicht, wieso ich diejenige sein soll, die Dennis anruft. Wieso kannst du das nicht selbst tun?«
Weil, dachte Cassandra, ich ein riesiger Feigling bin, deshalb. »Ruth Ann, bitte. Ich werde ja mit ihm reden, aber zuerst muss ich mir überlegen, was ich ihm sagen will.«
»Du kannst ebenso gut gleich in den sauren Apfel beißen. Später wird es keinen Deut einfacher sein.«
»Das weiß ich. Sorgst du bitte einfach nur dafür, dass er die Nachricht bekommt? Sag ihm, ich rufe ihn später an.«
»Gut.«
»Danke. Und jetzt zu meinem Wagen. Würdest du A. J. bitten, ihn herzubringen?«
Ruth Ann stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ja. Sonst noch was?«
»Nein, das ist alles. Ich rufe dich an, sobald ich bei Tante May bin.«
»Cassie.«
»Was?«
»Na ja, glaubst du, dass du klarkommst?«
Diesmal war es an Cassandra zu seufzen. »Bestimmt.« Sie wünschte, sie wäre sich in diesem Punkt so sicher, wie sie sich anhörte.
Als sie aufgelegt hatte, nahm sie das Telefonbuch aus der Schublade. Immer in Bewegung sein, sagte sie sich, bloß nicht
stehen bleiben. Sie blätterte durch das Telefonbuch, bis sie sie gefunden hatte. May und Walton Frost, Salter Path, North Carolina . Frost war ein recht lustiger Name für jemanden, der am Meer wohnte, selbst wenn es auch dort ab und zu kalt werden konnte. Sie war noch nie im Winter am Strand gewesen, hatte aber gehört, der Wind schneide sich wie ein Messer durch die Kleider, und der Sand würde so heftig aufgewirbelt werden, dass er sogar den Lack am Wagen ruinierte. Aber jetzt war es zum Glück warm. Liebeskummer im Winter zu haben, bei dieser widerwärtigen Kälte und Trostlosigkeit, die sich nur umso schwerer aufs Gemüt legte … tja, das wäre wohl mehr, als sie ertragen könnte. Wenigstens würden ihr der warme Wind und das Wasser, der blaue Himmel und die langen Tage ein wenig Trost spenden. Sie nahm den Hörer ab und wählte.
May rutschte auf die Sofakante, beugte sich vor und starrte die Fernbedienung ein letztes Mal mit zusammengekniffenen Augen an. Es war so schwer, sich zu konzentrieren. Ihre Augen nahmen ständig Sachen wahr, die zu erledigen waren - die Uhr an der Wand ging fünf Minuten
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