In dein Herz geschrieben
Zimmer hatte sich kaum verändert, seit sie es vor all diesen Jahren verlassen hatte - bis auf den Stuhl, den Annie Laurie ans Fenster gezogen hatte, und das Bett, das aussah, als hätte jemand darauf gelegen. Sie fragte sich, seit wann das Kind schon hier heraufkam. Sie wäre nicht gerade erfreut, ihre kleine Zufluchtsstätte hergeben zu müssen, aber es ging nicht anders. May zog an der Schnur, um den Deckenventilator in Gang zu setzen, worauf der Staub aufgewirbelt wurde und sie husten musste. Es musste eine Menge getan werden, Staubwischen, die Jalousie ersetzen, das Wasser wieder anschalten.
May schloss das Fenster und trat ans Spülbecken der kleinen Küche in den dem Sund zugewandten Teil des Raums,
wich jedoch erschrocken zurück, als ihr Blick auf eine dicke schwarze Spinne fiel, die aussah, als habe sie sie bereits erwartet. Dreimal unmittelbar nacheinander war sie erschrocken. Das musste ein Zeichen sein.
Sie beugte sich vor und zog die Jalousie ganz nach oben, ehe sie zurücktrat, für den Fall, dass die Spinne vorhatte, sie anzuspringen. Sie hatte immer gern an der Spüle gestanden und ihr Geschirr, einen einzelnen Teller, die Tasse und das Besteck abgewaschen. Sie war froh gewesen, sich nur um den Abwasch für eine Person kümmern zu müssen. Sie liebte den Anblick der Boote, des Streifens Grün drüben in Broad Creek, das Gefühl des Friedens, ganz allein hier oben zu sein.
Der Lagerkoller war erst später gekommen, doch er hatte nur angehalten, bis Walton die Rosen gepflanzt hatte. Ein schlaues Kerlchen, dieser Walton. Er hatte sich etwas einfallen lassen, das ihre Zuwendung erforderte. Cassandra brauchte ebenfalls etwas, nur hatte May nicht die leiseste Ahnung, was es sein könnte. Es war Jahre her, dass sie Zeit mit einem Angehörigen verbracht hatte. Alles, was sie über Cassandra als Erwachsene wusste, war, dass sie eine schwer arbeitende Frau war. Sie hatte sich von der einfachen Bürokraft zur Leiterin hochgearbeitet, hatte Abendkurse auf dem College belegt und anschließend diese Kindertagesstätte eröffnet, um zu Hause bleiben und sich um Marvelle kümmern zu können. Cassandra komme nach ihrer Mutter, hatte Jesse immer gesagt. Sie fürchte sich kein bisschen vor schwerer Arbeit.
May nahm den Staubwedel, hob die Spinne darauf, trug sie zum Fenster und schnippte sie fort. Ein kleiner Freiflug würde ihr schon nicht schaden. Sie legte den Staubwedel beiseite und schloss die Tür. Bald würde Walton nach Hause kommen, den sie dann mit dem Staubsauger hinaufschicken konnte. Wenn Annie Laurie kam, würden sie das Zimmer anständig sauber machen, so dass es fertig wäre, wenn Cassandra aus dem Krankenhaus zurückkehrte.
Sie hielt sich am Geländer fest und ging vorsichtig die Treppe hinunter, wobei sich ihre Knie bei jeder Stufe beschwerten. Auf der untersten Stufe blieb sie stehen und blickte nach oben. Die Treppe war in tadellosem Zustand, nicht im Mindesten baufällig, und auf dem Absatz war sogar noch Platz für einen Stuhl. Cassandra könnte sich nach draußen setzen und die Welt an sich vorüberziehen lassen. Das hier oben war der perfekte Ort für eine Frau, um ein wenig nachzudenken.
Ja, dachte May und schüttelte den Kopf. Sie hätte alle Hände voll zu tun, wenn sie sich um Cassandra und um Doris kümmern wollte. Diese Doris. Bestimmt würde sie sofort wieder arbeiten wollen, wenn sie nach Hause kam, und mächtig übellaunig werden, wenn sie gezwungen war, das Bett zu hüten und nichts zu tun. Ehrlich gesagt freute sich May fast darauf, Doris ein wenig herumkommandieren zu dürfen, doch gleichzeitig fürchtete sie sich davor, sich den ganzen Tag mit ihrer schlechten Laune herumschlagen zu müssen. Sie wusste nicht, was Annie Laurie ohne ihre Großmutter anstellen würde, die sie jede Minute des Tages im Auge behielt. Und der arme Chester würde am Pier über seine eigenen Füße stolpern.
»Hotdog!«, sagte May und schlug mit der flachen Hand auf das hölzerne Treppengeländer. Doris war nicht die Einzige, die die Zukunft vorhersehen konnte.
15
Das musste Annie Laurie sein, dachte Cassandra beim Anblick des Mädchens mit den langen roten Zöpfen, die auf den Wagen zugelaufen kam. Hector hatte ihr erzählt, sie sei zwölf und würde bald dreizehn werden. Meine Güte, ihr graute bei der Vorstellung, noch einmal in diesem Alter zu sein, auch wenn das eine Chance wäre, alles anders zu machen und einen jungen Körper zu besitzen, der nirgendwo schmerzte und zwickte. Die Ärmste -
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