In dein Herz geschrieben
die offenbar glaubte, mit einer hübschen warmen Mahlzeit käme alles wieder in Ordnung.
Mittlerweile hatte May sich ihr zugewandt. »Soll ich Walton losschicken, damit er deinen Koffer aus dem Wagen holt?«
Cassandra schlug mit beiden Händen so fest auf die Tischplatte, dass das Besteck klirrte, ehe sie kehrtmachte und zur Tür stürmte. Sie nahm nichts wahr, nur das Licht, das durch die Hintertür hereindrang. Genau das war ihr Ziel, diese Tür, genauso wie gestern in der Kirche. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis sie sie erreichte. Eine Hand auf den Türknauf gelegt, wandte sie sich ihnen noch einmal zu, um sich zu entschuldigen, doch die Worte schienen irgendwo auf der Höhe ihres Diaphragmas stecken geblieben zu sein. May und Annie Laurie sahen sie an, als hätten sie einen wutschnaubenden Bullen vor sich, bereit, jeden Moment zurückzuweichen und die Flucht über den Zaun zu ergreifen. Aber wovor sollten sie sich fürchten? Schließlich war sie diejenige, die ihr Leben zerstört hatte.
In diesem Moment kam Walton mit einem Glas Feigen in der Hand herein und blieb stehen. »Was ist denn?«, fragte er und sah zwischen ihnen hin und her.
Sie schob sich an ihm vorbei durch die Hintertür, lief zur
Limousine, ließ den Motor aufheulen und schoss mit quietschenden Reifen aus der Einfahrt. Gott, sie war es so leid, sich ständig wie ein Mensch zweiter Klasse zu fühlen. War es leid, dass alle versuchten, ihr Leben zu organisieren und sich benahmen, als hätte sie nichts zu tun und müsse beschäftigt werden, nur weil sie keinen Ehemann und keine Kinder hatte. Ruth Ann spielte die zutiefst Gekränkte, wenn Cassandra es einmal wagte, zu sagen, sie sei beschäftigt und könne nicht herüberkommen, um zu tun, was Ruth Ann sich gerade in den Kopf gesetzt hatte. Einmal war sie sogar so weit gegangen und hatte gefragt: »Wie bitte? Was könntest du denn sonst zu tun haben?« Die Tatsache, dass sie keine eigene Familie hatte, war Ruth Anns Freibrief dafür, sie zu zwingen, dass sie sie zum Einkaufen begleitete, auf ihre Kinder aufpasste, sich hinsetzen und sich ihr Gejammer über A. J., die Kinder und ihre Arbeit anhören musste. Um Cassandra ging es nie, denn, also bitte, mit welchen Problemen sollte sie sich schon herumschlagen müssen, wo sie doch nicht einmal ein Leben hatte?
Die über dem Sund untergehende Sonne färbte die Wolken zuerst orange, dann pink. Ein wunderschöner Anblick. Sie legte die Hände aufs Steuer und drehte den Brillantring an ihrem Finger hin und her, sah zu, wie er in der Abendsonne glitzerte. Seit sie abgenommen hatte, war er ein wenig lockerer geworden. Sie hatte vorgehabt, ihn enger machen zu lassen, am Ende jedoch beschlossen, noch zu warten, bis sie ihr endgültiges Wunschgewicht erreicht hatte. Ein weiser Entschluss, denn Dennis würde garantiert ein anderes, dickes Mädchen finden, das ihn tragen konnte, eine andere fette alte Jungfer, die es eilig hatte, unter die Haube zu kommen, bevor der Zug endgültig abgefahren war. Meine Güte, wie gemein von ihr. Aber genauso fühlte sie sich, gemein und hinterhältig wie eine Schlange. Der arme Dennis. Er hatte etwas Besseres verdient. Es konnte ja sein, dass seine Gefühle für eine Weile verletzt waren, wahrscheinlich war er auch wütend auf sie,
aber bestimmt würde er sich bald wieder beruhigen und erleichtert sein, dass er in letzter Minute dem Leben mit einer Verrückten entkommen war.
Fünf Monate. Gerade einmal fünf Monate waren sie verlobt. Wie hatte sie ihre Meinung so schnell ändern können? Das würde Dennis wissen wollen, und was sollte sie ihm darauf sagen? Sie wusste es doch selbst nicht. Sie wusste nur, dass es in der Nacht angefangen hatte, als er ihr einen Antrag gemacht hatte. Nachdem er gegangen war, hatte sie das Gefühl beschlichen, dass etwas nicht stimmte. Es war dasselbe Gefühl, das sie bekam, wenn sie das Haus verließ und nicht mehr wusste, ob sie den Herd abgeschaltet hatte. Das Gefühl war mit jedem Tag stärker geworden, doch sie hatte sich eingeredet, es sei völlig normal, es liege nur an den Nerven. Und dann hatte dieser Traum angefangen, den sie mindestens einmal pro Woche träumte. Der, in dem sie Charlotte Lucas war, die Mr. Collins heiratete. Sie wachte jedes Mal auf, schweißgebadet, und konnte nicht mehr einschlafen. Der Arzt hatte gemeint, es liege an den Hormonen, das sei völlig normal in ihrem Alter, und hatte ihr ein Schlafmittel verschrieben. Cassandra hatte das Rezept zwar eingelöst,
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