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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Nachmittagssonne schien kraftvoll und schräg durch die Kiefern; ich musste blinzeln und mich abwenden. Ich dachte, ich hätte ihn nicht richtig verstanden. »Ich stehe in der Einfahrt.«
    Cole schwieg einen Moment und sagte dann: »Na, ein Glück. Dann beeilt euch mal, verdammt. Und wenn du gebissen wirst, denk dran, das war deine Idee.«
    Ich fragte Cole: »Will ich’s überhaupt wissen?«
    »Kann sein, dass ich mich mit der Dosis der Beruhigungsmittel verschätzt hab. Nicht alles, was man im Internet liest, ist wahr. Offenbar braucht man für Wölfe doch mehr als für neurotische deutsche Schäferhunde.«
    »Oh Mann«, sagte ich. »Also rennt Beck frei im Haus rum? Einfach so?«
    Cole klang ein bisschen kurz angebunden. »Darf ich dich daran erinnern, dass ich hier schon die Drecksarbeit erledigt habe? Ich hab ihn aus dem Wald geholt. Dann kannst du ihn jetzt wenigstens aus deinem Zimmer holen.«
    Wir hasteten zur Haustür. Die letzten Sonnenstrahlen verwandelten die Fenster des Hauses in Spiegel, die das Licht reflektierten. In einer anderen Zeit, in einem anderen Leben hätte es jetzt Abendessen gegeben. Ich hätte ein Haus betreten, in dem mich in der Mikrowelle aufgewärmte Essensreste und die Mathehausaufgaben erwarteten, in dem Iron Butterfly aus den Lautsprechern dröhnten und Ulrik dazu Luftschlagzeug spielte. Beck sagte dann immer: Ich möchte mal wissen, wer behauptet hat, die Europäer hätten guten Geschmack. Mann, lag der daneben. Das Haus hätte sich bis oben hin voll angefühlt und ich hätte mich in mein Zimmer zurückgezogen, um ein bisschen Ruhe zu haben.
    Ich vermisste diesen Lärm.
    Beck. Beck war hier.
    Cole stieß ein ungeduldiges Zischen aus. »Bist du immer noch nicht drin? Verdammte Hacke, wofür braucht ihr denn so lange?«
    Die Haustür war abgeschlossen. »Hier, rede mit Grace«, sagte ich.
    »Mommy gibt mir auch keine andere Antwort als Daddy«, sagte Cole noch, aber ich reichte das Telefon trotzdem weiter.
    »Rede du mit ihm, ich muss meinen Schlüssel suchen.« Ich wühlte in meiner Tasche und schloss die Tür auf.
    »Hi«, meldete sich Grace. »Wir kommen jetzt rein.« Und sie legte auf.
    Ich schob die Tür auf und blinzelte, um mich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Mein erster Eindruck waren rote Streifen auf den Möbeln, die langen Strahlen der Nachmittagssonne, die sich über alles legten. Weder von Cole noch von einem Wolf war irgendetwas zu sehen. Er war auch nicht oben, trotz seiner sarkastischen Bemerkung.
    Mein Handy klingelte.
    »Ts«, machte Grace und gab es an mich weiter.
    Ich hielt es mir ans Ohr.
    »Im Keller«, sagte Cole. »Immer dem Geruch von verbranntem Fleisch nach.«
    Die Kellertür stand offen und aus dem Raum strömten Wellen von Wärme. Selbst von hier konnte ich den Wolf riechen: Nervosität und feuchter Waldboden und frühlingshaftes Wachstum. Als ich die Stufen in das dämmrige braune Licht hinunterging, drehte sich mir vor Sorge der Magen um. Unten, am Fuß der Treppe, stand Cole, die Arme verschränkt. Er ließ jeden einzelnen Knöchel seiner rechten Hand mit dem Daumen knacken und fing anschließend mit der linken Hand an. Hinter ihm sah ich ein paar Heizgeräte, die Quelle der unerträglichen Hitze.
    »Na endlich«, begrüßte mich Cole. »Vor einer Viertelstunde war er noch so richtig schön groggy. Wieso hat das denn so lange gedauert? Seid ihr bis Kanada gefahren? Musstet ihr erst noch den Verbrennungsmotor erfinden, bevor ihr loskonntet?«
    »Die Fahrt hat ein paar Stunden gedauert.« Ich betrachtete den Wolf. Er lag in einer unnatürlich verdrehten Haltung da, die kein Tier bei vollem Bewusstsein eingenommen hätte, halb auf der Seite, halb auf die Brust gedreht. Sein Kopf bewegte sich rastlos hin und her, seine Augen waren halb geschlossen, die Ohren hingen schlapp herunter. Mein Puls flatterte, fieberhaft, wie eine Motte gegen eine Glühbirne.
    »Ihr hättet ja so schnell fahren können, wie ihr wolltet«, bemerkte Cole. »Polizisten kriegen keine Strafzettel.«
    »Was sollen die Heizgeräte?«, fragte ich. »Davon verwandelt er sich auch nicht.«
    »Aber wenn’s klappt, bleibt ein hauptberuflicher Werwolf damit vielleicht länger ein Mensch«, entgegnete Cole. »Wenn wir nicht vorher zerfleischt werden, was immer wahrscheinlicher wird, je länger wir hier rumtrödeln.«
    »Psst«, machte Grace. »Sollen wir oder nicht, Sam?«
    Sie sah mich an, nicht Cole. Die Entscheidung lag bei mir.
    Wir beide hockten uns vor den Wolf, dessen Gliedmaßen

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