In deinen Augen
hinteren Teil des Geschäfts hatten Coles Aufmerksamkeit erregt. »Was ist denn da oben?«
»Lyrik und ein paar Sonderausgaben.« Und dazu Erinnerungen an Grace und mich, die noch einmal zu durchleben im Moment zu sehr wehgetan hätten.
Cole nahm einen Frauenroman von einem Display, studierte ihn abwesend und stellte ihn dann zurück. Er war erst seit fünf Minuten hier und wurde schon wieder unruhig. Ich warf einen verstohlenen Blick auf meine Armbanduhr, um zu sehen, wie lange es noch dauern würde, bis Karyn den Laden übernahm und mich erlöste. Mit einem Mal kamen mir die vier Stunden vor wie eine Ewigkeit. Ich versuchte, den philanthropischen Impuls wiederzufinden, der mich dazu getrieben hatte, Cole mit hierher zu nehmen.
Als ich mich zur Kassentheke umdrehte, sah ich etwas aus dem Augenwinkel. Es war einer dieser kurzen Blicke, bei denen man nachher überrascht war, wie viel man in nur einer Sekunde wahrgenommen hatte. Eins dieser flüchtigen Bilder, die eigentlich nicht viel mehr als vergessene Schemen sein durften und die stattdessen zum Schnappschuss wurden. Und auf diesem Schnappschuss war Folgendes zu sehen: Amy Brisbane, Grace’ Mutter, die am Schaufenster der Buchhandlung vorbeilief, auf dem Weg zu ihrem Atelier. Sie hatte einen Arm über die Brust gelegt und umklammerte den Riemen ihrer Handtasche, als drohte er, mit jedem ihrer ruckartigen Schritte von ihrer Schulter zu rutschen. Sie trug einen hauchdünnen, hellen Schal und den ausdruckslosen Blick eines Menschen, der am liebsten unsichtbar wäre. Und im selben Moment, als ich ihr Gesicht sah, wusste ich, dass sie von dem toten Mädchen im Wald gehört hatte und dass sie sich fragte, ob es Grace war.
Ich sollte ihr sagen, dass sie es nicht war.
Doch da waren noch immer die unzähligen kleinen Verbrechen der Brisbanes. Sofort musste ich daran denken, wie Lewis Brisbanes Faust in einem Krankenzimmer in mein Gesicht gekracht war. Daran, wie sie mich mitten in der Nacht aus ihrem Haus geworfen hatten. Wie ich kostbare Tage mit Grace verlor, nur weil sie plötzlich ihre elterlichen Prinzipien entdeckt hatten. Ich hatte schon so wenig gehabt, doch auch das hatten sie mir genommen.
Aber Amy Brisbanes Gesicht – ich sah es immer noch vor mir, auch wenn ihre Marionettenschritte sie längst am Laden vorbeigetragen hatten.
Sie hatten Grace einzureden versucht, das mit mir sei nichts Ernstes.
Hin- und hergerissen schlug ich mir immer wieder mit der Faust in die Handfläche. Ich war mir der Tatsache bewusst, dass Cole mich beobachtete.
Dieses ausdruckslose Gesicht – es war dasselbe, das auch ich momentan oft aufsetzte.
Sie hatten ihr ihre letzten Tage als Mensch, als Grace, zur Hölle gemacht. Meinetwegen.
Wie ich das hasste. Ich hasste die Tatsache, dass ich wusste, was ich wollte und was richtig war, und dass diese beiden Dinge nicht dasselbe waren.
»Cole«, sagte ich. »Pass kurz auf den Laden auf, ja?«
Eine Augenbraue hochgezogen, drehte Cole sich zu mir um.
Mein Gott, ich wollte das nicht. Ein Teil von mir hoffte, dass Cole protestieren und mir die Entscheidung abnehmen würde. »Es kommt schon niemand. Ich bin in einer Minute wieder da. Versprochen.«
Cole zuckte mit den Schultern. »Tu, was du nicht lassen kannst.«
Ich zögerte noch einen Moment, wünschte, ich könnte mir einfach vormachen, dass das auf dem Gehweg jemand anderes gewesen war. Es war doch nur ein Gesicht gewesen, halb von einem Schal verdeckt, nur eine Sekunde sichtbar. Aber ich wusste, was ich gesehen hatte.
»Nicht den Laden in Brand setzen, okay?« Ich drückte die Vordertür auf und trat hinaus auf den Gehweg. Die plötzliche Helligkeit ließ mich den Blick senken; die Sonne hatte bis jetzt nur durch die Ladenfenster gelinst, hier draußen aber tauchte sie die Straße in gleißendes Licht. Blinzelnd erkannte ich, dass Grace’ Mutter schon fast einen kompletten Häuserblock entfernt war.
Über die unebenen Gehwegplatten hastete ich ihr hinterher, machte einen zeitfressenden Bogen um zwei Damen mittleren Alters, die sich gackernd über dampfende Kaffeebecher beugten, dann um eine alte Frau mit ledrigem Gesicht, die vor dem Secondhandladen eine Zigarette rauchte, und dann um eine junge Mutter, die einen bürgersteigfüllenden Doppelkinderwagen vor sich herschob.
Schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als zu rennen, im Kopf immer die Tatsache, dass es Cole war, der in meiner Abwesenheit auf den Laden aufpasste. Grace’ Mutter war nicht mal kurz stehen
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