In deinen Augen
geblieben, bevor sie die Straße überquerte. Atemlos hielt ich an der Straßenecke an, um einen Pick-up vorbeizulassen, bevor ich sie schließlich in der schattigen Nische vor ihrem lila gestrichenen Studio einholte. Aus der Nähe sah sie aus wie ein Papagei in der Mauser; ihr zerzaustes Haar löste sich aus seinem Band, nur die Hälfte ihrer Bluse war unordentlich in ihren Rock gestopft und der Schal, der mir schon eben aufgefallen war, hatte sich losgewickelt, sodass eine Seite viel weiter herunterhing als die andere.
»Mrs Brisbane«, rief ich mit stockender Stimme, während meine Lungen nach Luft rangen. »Warten Sie.«
Ich war mir nicht sicher, welchen Gesichtsausdruck ich von ihr erwartet hatte in dem Moment, als sie mich erkannte. Gegen Abscheu oder Wut wäre ich gewappnet gewesen. Aber sie blickte mich nur an, als wäre ich – gar nichts. Höchstens ein lästiges Ärgernis.
»Sam?«, sagte sie nach einer Pause, als hätte sie zuerst nachdenken müssen, bis ihr mein Name einfiel. »Ich habe zu tun.« Sie stocherte mit dem Schlüssel im Schloss herum und bekam die Tür nicht auf. Nach einem Augenblick gab sie den Schlüssel, mit dem sie es versucht hatte, auf und kramte in ihrer Handtasche nach einem anderen. Die Tasche war ein riesiges, schreiend buntes Patchworkungeheuer, vollgestopft bis oben hin; falls ich noch einen Beweis dafür gebraucht hätte, dass Grace nicht im Geringsten wie ihre Mutter war, hätte diese Tasche vollkommen gereicht. Mrs Brisbane sah mich nicht an, während sie weiterwühlte. Ihre abweisende Art – als wäre ich nicht mal mehr ihre Wut oder Verachtung wert – ließ mich bereuen, dass ich ihr überhaupt hinterhergelaufen war.
Ich trat einen Schritt zurück. »Ich dachte nur, Sie wissen es vielleicht nicht. Es ist nicht Grace.«
Mit einem so scharfen Ruck, dass der Schal ihr nun vollends vom Hals rutschte, hob sie den Kopf und sah mich an.
»Ich weiß es von Isabel«, sagte ich. »Culpeper. Es ist nicht Grace. Dieses Mädchen, das sie gefunden haben.«
Nun kam mir mein kleiner Akt der Gnade schon nicht mehr wie eine so gute Idee vor, denn mir wurde klar, dass ein argwöhnisches Gemüt meine Geschichte im Handumdrehen auseinandernehmen könnte.
»Sam«, sagte Mrs Brisbane mit sehr ruhiger Stimme, als spräche sie mit einem kleinen Jungen, der gern mal ein wenig flunkerte. Ihre Hand schwebte über ihrer Tasche, die Finger gespreizt und reglos wie die einer Schaufensterpuppe. »Bist du dir sicher, dass das stimmt?«
»Isabel kann es Ihnen bestätigen«, erwiderte ich.
Sie schloss die Augen. Zufriedenheit durchströmte mich, als ich sah, wie viel Schmerz ihr Grace’ Verschwinden offensichtlich bereitete, doch schon im nächsten Moment fühlte ich mich deswegen furchtbar. Genau das war Grace’ Eltern schon immer gut gelungen: mir das Gefühl zu geben, ich wäre eine schlechtere Version meiner selbst. Schnell bückte ich mich und hob unbeholfen ihren Schal auf.
Ich gab ihn ihr. »Ich muss zurück in den Laden.«
»Warte«, hielt sie mich zurück. »Komm einen Moment mit rein. Ein paar Minuten hast du doch wohl, oder?«
Ich zögerte.
Dann antwortete sie für mich: »Oh, du musst arbeiten. Natürlich. Bist du – bist du mir hinterhergelaufen?«
Ich blickte auf meine Füße. »Sie sahen aus, als wüssten Sie es nicht.«
»So war es auch«, erwiderte sie. Sie hielt inne; als ich sie ansah, waren ihre Augen geschlossen und sie rieb sich mit dem Zipfel ihres Schals übers Kinn. »Das Schreckliche daran ist, Sam, dass die Tochter einer anderen Mutter tot dort draußen liegt und ich froh darüber bin.«
»Ich auch«, sagte ich ganz leise. »Wenn Sie ein schrecklicher Mensch sind, dann bin ich es auch, denn ich bin sehr, sehr froh.«
Mrs Brisbane sah mich an – sah mich wirklich an, sie ließ die Hände sinken und starrte mir geradewegs ins Gesicht. »Wahrscheinlich hältst du mich für eine schlechte Mutter.«
Ich sagte nichts, weil sie recht hatte. Ich versuchte, mein Schweigen mit einem Schulterzucken abzumildern. Das war so nah an einer Lüge, wie ich es gerade noch zustande brachte.
Sie blickte einem vorbeifahrenden Auto nach. »Du weißt wahrscheinlich, dass Grace und wir einen großen Streit hatten, bevor sie – bevor sie krank geworden ist. Es ging um dich.« Sie warf mir einen Blick zu, um zu sehen, ob ihre Annahme richtig war. Als ich nicht antwortete, nahm sie das als Ja. »Ich hab mich mit ziemlich vielen dummen Jungs eingelassen, bevor ich geheiratet habe.
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