In deinen Augen
Griff. Nichts, nichts, und dann – erstickte ich fast an der Erinnerung an Dunkelheit und Schlamm. Shelby. Ich erinnerte mich an Shelby. Ich musste schlucken, krampfhaft, und blickte wieder auf mein Spiegelbild. In meinem Gesicht stand Angst und meine Hand presste sich an meine Kehle.
Mein verängstigtes Gesicht gefiel mir nicht; ich sah aus wie ein fremdes Mädchen, das ich nicht erkannte. Also blieb ich noch eine Weile dort stehen und korrigierte behutsam meine Züge, bis die Grace im Spiegel wieder die war, die ich kannte, dann erst drehte ich den Türknauf. Wie Sam geschrieben hatte, war die Tür unverschlossen, und ich trat hinaus in den Flur.
Überrascht stellte ich fest, dass es Nacht war. Ich konnte das Summen des Kühlschranks im Erdgeschoss hören, das Flüstern der Luft in den Heizungsrohren, die Geräusche, die ein bewohntes Haus machte, wenn es glaubte, dass niemand zuhörte. Ich erinnerte mich, dass links von mir Sams Zimmer lag, doch die Tür stand offen und es war dunkel. Rechts von mir, am anderen Ende des Flurs, eine weitere offene Tür und von dort fiel Licht nach draußen. Ich entschied mich für diese Option und tappte an Fotos von Beck und anderen lächelnden Leuten und einer kuriosen Sammlung von Socken vorbei, die in einem künstlerisch anmutenden Muster an die Wand genagelt worden waren.
Ich spähte in die hell erleuchtete Tür und sah Becks Zimmer. Eine halbe Sekunde später fiel mir auf, dass ich eigentlich gar keinen Grund hatte, es für Becks Zimmer zu halten. Lauter tiefe Grün- und Blautöne, dunkles Holz und schlichte Muster. Eine Lampe auf dem Nachttisch warf ihr Licht auf einen Stapel Biografien und eine Lesebrille. Daran allein war nichts eindeutig Identifizierendes. Es war einfach ein sehr gemütliches und schnörkelloses Zimmer, genauso gemütlich und schnörkellos, wie Beck auf mich gewirkt hatte.
Aber es war nicht Beck, der auf der Matratze lag, sondern Cole, auf dem Bauch, quer darüber ausgestreckt; seine Füße baumelten über den Rand, die Zehen wiesen zu Boden. Ein kleines, in Leder gebundenes Büchlein lag aufgeschlagen neben ihm, die Seiten nach unten. Den Rest des Betts bedeckte ein Wirrwarr aus losen Zetteln und Fotos.
Es sah aus, als schliefe Cole inmitten dieses Durcheinanders. Ich wollte mich vorsichtig umdrehen, doch als mein Fuß eine quietschende Bodendiele erwischte, murmelte er etwas in die blaue Bettdecke.
»Bist du wach?«, fragte ich.
»Ja.«
Er wandte mir das Gesicht zu, als ich ans Fußende des Betts trat. Irgendwie kam ich mir vor wie in einem Hotelzimmer in diesem schönen, ordentlichen, unvertrauten Raum mit seinen zurückhaltenden Farbkombinationen, der leuchtenden Schreibtischlampe und dem Gefühl von Verlassenheit, das er ausstrahlte.
Cole sah zu mir auf. Sein Gesicht war jedes Mal ein Schock: so gut aussehend. Ich musste diese Tatsache bewusst beiseiteschieben, um mich mit ihm wie mit einem normalen Menschen unterhalten zu können. Er konnte ja nichts für sein Aussehen. Ich wollte ihn fragen, wo Sam war, aber bei genauerem Nachdenken erschien es mir ziemlich unhöflich, Cole bloß als Wegweiser zu benutzen.
»Ist das hier Becks Zimmer?«
Cole streckte den Arm über die Bettdecke in meine Richtung und antwortete, indem er den Daumen hob.
»Warum schläfst du hier?«
»Ich hab nicht geschlafen«, sagte Cole. Er rollte sich auf den Rücken. »Sam schläft nie. Ich versuche, sein Geheimnis zu ergründen.«
Ich ließ meinen Po auf die Bettkante sinken, halb sitzend, halb stehend. Der Gedanke, dass Sam nicht schlief, stimmte mich ein bisschen traurig. »Steht sein Geheimnis irgendwo in diesen Papieren?«
Cole lachte. Sein Lachen war ein kurzer, perkussiver Laut, der wie ein Ausschnitt aus einem Album klang. Ich fand, es war ein einsamer Laut.
»Nein, das hier sind alles Becks Geheimnisse.« Er tastete umher, bis seine Finger das Notizbuch fanden. »Becks Tagebuch.« Die andere Hand legte er auf ein paar lose Zettel. Jetzt sah ich, dass unter ihm noch mehr davon lagen. »Grundschuld, Testamente, Treuhandkram, zahnärztliche Unterlagen und Rezepte für Medikamente, mit denen Beck versucht hat, das Rudel zu heilen.«
Ich war überrascht, zumindest ein bisschen, von der Existenz solcher Dinge zu hören, aber eigentlich hätte ich es nicht sein dürfen. Das alles hier war nichts, wonach Sam gesucht hätte – Fakten interessierten ihn nicht besonders –, und höchstwahrscheinlich waren es auch Informationen, mit denen er aufgewachsen war und
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