In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
helfen.
»Vielleicht liest er ja lieber daheim.«
Ihrem Gesichtsausdruck nach hörte Miss Celeste das zum ersten Mal.
Mit dem Handrücken strich sie sich ein paar Haare aus der Stirn. »Lesen Sie denn mit ihm?«
Anya nickte.
»Kleine Jungs wollen es ihren Müttern immer recht machen und nehmen viel auf sich, wenn sie nur ein wenig ungeteilte Aufmerksamkeit dafür bekommen. Sie leben nicht mit Ihrem Mann zusammen, richtig?«
»Nein, aber …«
Miss Celeste lächelte. »Alle Eltern haben große Pläne mit ihren Kindern. Aber hier lassen wir sie nach ihrem eigenen Tempo lernen. Ben entwickelt sich prächtig für einen Vierjährigen, nur mit dem Werken ist er hintendran.«
Plötzlich kam Ben vom Spielen herein, er war außer Atem und zupfte Anya an der Bluse.
»Komm, Mum, heimgehen!«
Dafür, dass er eben noch hierbleiben wollte, hatte er einen erstaunlichen Drang zu gehen entwickelt. Miss Celeste verabschiedete sich namentlich von ihm, und allmählich dämmerte es Anya. Ben wollte nicht, dass sie sich mit den Erzieherinnen unterhielt.
Auf der Heimfahrt legten sie einen Zwischenstopp bei einem Park ein und stiegen aus. Ben lief zu den Schaukeln und setzte sich darauf. Anya schubste ihn von hinten an.
»Und, Speedie, wie gefällt’s dir in der Vorschule?«
»Ganz gut.«
»Und wie sind die anderen Kinder so?«
»Gut.«
»Und wie findest du die Aufgaben, die du da machen sollst?«
Er schaukelte höher. »Schon okay.«
Na toll. Benjamin hatte die Kindheit übersprungen und war direkt beim einsilbigen Teenagerwortschatz gelandet.
»Du bist gern mit den anderen zusammen, oder?«
Er warf die Beine hoch in die Luft und lehnte sich zurück. »Ich find’s toll, Freunde zu haben. Da ist ein Kind in der Vorschule, das ist anders. Den kann keiner leiden, weil der hat die Hamburgerkrankheit.«
»Was soll das denn sein?«
»Miss Celeste hat gesagt, er kann nur schwer Freunde finden, wegen seinem Gehirn.«
Anya verstand. »Du meinst, er leidet am Asperger-Syndrom?«
»Oder so ähnlich. Am Anfang war’s blöd, da haben die anderen mich verarscht, weil ich gesagt hab, ich will zum Ballett. Die haben gesagt, Ballett, das ist was für Mädchen, und dann haben sie dauernd auf mir rumgehackt.«
Anya hatte nicht vergessen, wie es war, wenn man das Gefühl hatte, anders zu sein, sich von allen anderen zu unterscheiden. Sie hatte deshalb viel Zeit allein zugebracht. Und was das Schlimmste war, es hatte sie einsam werden lassen. »Ich hab ja gar nicht gewusst, dass es am Anfang schwierig für dich war. Das hast du mir gar nicht erzählt.«
»Ich weiß.« Er bremste mit den Füßen und hörte abrupt zu schaukeln auf. »Aber dann ist Brandon gekommen, der mit dem Problem, und jetzt bin ich nicht mehr so arg anders. Jetzt hackt keiner mehr auf mir rum.«
»Hacken sie denn auf Brandon rum?«
Ben scharrte mit den Füßen und nickte.
»Du auch?«
»Nein … Aber wenn wir ihn mitspielen lassen, dann wird er immer gleich grob und tut uns weh.« Ben wich Anyas Blick aus. »Alle fürchten sich vor ihm.«
»War das der, den du nicht mitspielen lassen wolltest?«
»Hm hm.« Er schaute starr auf seinen Schoß.
Anya wollte ihn herumdrehen, um ihm ins Gesicht zu sehen, aber er wehrte sich.
»Was sagen die Erzieherinnen dazu?«
»Dass er sich schwertut mit dem Lernen und dass wir nett zu ihm sein sollen. Aber Mum, er macht absichtlich gemeine Sachen. Er wartet, bis die Erzieherinnen nicht hinschauen, und dann haut er einen, oder er macht unser Spiel kaputt.«
Anya kniete sich vor ihrem Sohn auf den Boden.
»Hast du vorhin Angst gehabt, als du ihm gesagt hast, dass er nicht mitspielen darf?«
»Hm.« Er hob den Blick. »Die anderen haben sich alle nicht getraut.«
Erwachsen zu sein war gar nicht so viel anders, als ein Kind zu sein, dachte sie. Nur dass erwachsene Rowdys sich weitaus mehr herausnehmen konnten. Leute wie Veronica Slater, Lyndsay Gatlow und jeder Vergewaltiger spielten ihre Macht gegen die Verletzlichkeit ihrer Opfer aus. Dazu brauchte es auch keine besondere soziale Kompetenz.
Sie beugte sich vor und nahm ihren Sohn in die Arme. »Wollen wir uns versprechen, dass wir solche Schlägertypen aufhalten, wo immer wir können? Abgemacht?«
»Klasse. Abgemacht.«
»Spielen wir Alberntag? Wer am albernsten zurück zum Auto gehen kann!«
»Ich!«
Ben sprang von der Schaukel und lief im Zickzack durch den Park. Anya machte den Pinguingang, aber rückwärts, sehr zu seiner Freude.
Sie sah ihn kichern und bekam
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