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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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seit du uns in der Mongolei gefunden hast.« Jean Kiss deutete auf das Innere des Schlafzimmers. Sie schien nicht sonderlich glücklich über die Einrichtung zu sein. »Jetzt sind wir in Paris. In einer Wohnung, die ich von einem alten Soldaten gemietet habe, den ich kenne.«
    Ich erinnerte mich an meinen kurzen Blick auf die mongolische Steppe und den blauen Himmel, die sich ebenso in meinem Gedächtnis eingebrannt hatten wie der Anblick jener Frau, die jetzt neben meinem Bett saß. Vor drei Monaten, unmittelbar vor meinem letzten Kampf mit Ahsen, hatte ich den Fehler begangen, durch die Zeit zu reisen. Der erste von vielen Fehlern, wie es aussah. Die Fingerrüstung hatte mich damals zu meiner Großmutter gebracht, aber ich hatte nicht erwartet, sie noch einmal wiederzusehen.
    »Warum hast du die Mongolei verlassen?«, fragte ich.
    »Weil ich nirgendwo lange bleibe«, erwiderte sie knapp. »Und diese Welt behandelt unwissende Frauen sehr schlecht. Paris hat gute Lehrer. Hier wird Jolene einiges lernen.«

    »Ich bin sicher, dass sie es hassen wird.«
    »Ich habe doch keinen Jammerlappen großgezogen«, antwortete meine Großmutter. Aber ich konnte sehen, dass auch sie selbst nicht allzu erfreut über die Umgebung sein mochte, in der sie lebten.
    Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte. Vielleicht wusste sie es auch nicht. Ich lag auf dem Bett und quälte mich vor Schmerzen, während ich beobachtete, wie sie mich beobachtete. Schweigend.
    »Sieh uns nur an«, sagte sie schließlich. »Wie angeregt wir plaudern.«
    Ich lächelte. »Mir gefällt es.«
    »Genieße es nicht zu sehr.« Meine Großmutter stand auf und zog eine alte, faltige Brieftasche aus Leder aus ihrer Gesäßtasche. Sie klappte sie auf dem Nachttisch auf. Darin befanden sich dünne Papierchen und eine Dose mit einzelnen Tabakblättern. Sie begann sich eine Zigarette zu drehen und sah mich dabei an. »Du kannst Fehler machen, aber du darfst nicht mit der Zeit herumspielen.«
    »Ich bin doch nicht absichtlich hergekommen.«
    »Das stimmt.« Jean Kiss riss ein Streichholz an und entzündete die Zigarette. »Du lagst im Sterben, und Zee hat dir Hilfe besorgt. Das Überleben hat absoluten Vorrang, das weiß ich. Aber dies hier«, sie wedelte mit der Hand zwischen uns beiden hin und her, »das ist gefährlich.«
    »Ich glaube nicht, dass ich in meinem Zustand die Geschichte der Welt verändern kann.«
    Sie lächelte grimmig. »Und was ist mit unserer Geschichte?«
    Ich sah sie an, weil ich nicht wusste, was ich antworten sollte. Meine Großmutter rauchte ihre Zigarette, lehnte sich auf dem kleinen Holzstuhl zurück und streckte die Beine aus. Dabei beobachtete
sie mich. Sie betrachtete mich so lange und scharf, dass mir dabei richtig unbehaglich wurde.
    »Jolene ist unten«, sagte meine Großmutter plötzlich. »Ich habe ihr das Versprechen abgenommen, nicht mit dir zu sprechen.«
    »Meine Mutter«, sagte ich.
    »Meine Tochter«, erwiderte sie. »Es war ein Fehler, dass sie dich beim ersten Mal gesehen hat. Sie hat eine … ungesunde Faszination für deine Existenz entwickelt.«
    »Das tut mir leid.« Ich sagte das zwar, wusste allerdings nicht genau, was sie damit meinte. »Ich wollte keine Schwierigkeiten machen.«
    »Schwierigkeiten«, wiederholte meine Großmutter und aschte achtlos auf den Boden. »Du hättest ihr Gesicht sehen sollen, als du hergebracht wurdest. Du wärst fast verblutet. Wenn du vor ihren Augen gestorben wärest, dann wären solche Schwierigkeiten noch unser kleinstes Problem gewesen.«
    Darüber konnte ich nicht mit ihr streiten. Ich versuchte mich aufzurichten, was mir nach langen und sorgfältigen Verhandlungen mit dem Schmerz in meinem Körper auch gelang. Jetzt fiel mir das Atmen etwas leichter, was ein schwacher Trost war. Als ich zu der Stelle blickte, wo meine Wunde hätte sein sollen, sah ich nur makellose Tätowierungen.
    Meine Großmutter setzte sich neben mich. »Du wirst auch nach dem Sonnenuntergang noch einige Spuren der Verletzung aufweisen, aber nach ein oder zwei Tagen werden sie verschwunden sein. Die Jungs kümmern sich um uns, wenn wir es zulassen.«
    »Du weißt das aus eigener Erfahrung?«
    »Meine Mutter ist einmal verletzt worden.« Jean Kiss ergriff meine rechte Hand. »Du musst jetzt gehen, Maxine.«

    Ich sah ihr in die Augen. »Etwas ist mit dir geschehen, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben. Ich merke es. Du bist vorher nicht so … so spröde gewesen.«
    »Spröde«, wiederholte sie. Ihr

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