Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
Vom Netzwerk:
Gesicht verzog sich vor Schmerz, kurz bevor sich dann wieder die kühle, nachdenkliche Maske darüberlegte, die mich begrüßt hatte, als ich aufgewacht war. »Wir alle verändern uns doch. Jeder auf dieser Welt wird zu jemand Neuem, von der Geburt bis zum Tod. Wir werden immer und immer wieder neu erschaffen.«
    »Und unterwegs hast du Stücke von dir selbst verloren?«
    »Man kompensiert«, antwortete sie und drückte die Zigarette auf ihrer tätowierten Hand aus. »Man ruft sich ins Gedächtnis, was wichtig ist, und lässt sich davon leiten.«
    »Das habe ich schon einmal gehört«, gab ich zurück und betrachtete ihr Gesicht. »Von meiner Mutter.«
    Meine Großmutter blinzelte. »Tatsächlich?«
    »Und auch von Jack«, setzte ich leise hinzu.
    Sie blinzelte wieder, aber diesmal wirkte es eher wie ein beklommenes Zucken. »Ich nehme an, er… macht immer noch Schwierigkeiten?«
    »Er steckt in Schwierigkeiten«, erwiderte ich und beobachtete ihre Reaktion. »Aus vielerlei Gründen. Aber auch deshalb, weil er ein Kind mit dir hat.«
    »Ah«, stieß sie hervor. Zum ersten Mal erschien ein Ausdruck von Verletzlichkeit in ihren Augen. »Und du? Steckst du in Schwierigkeiten, weil er dein Großvater ist?«
    »Das würde mir nichts ausmachen«, gab ich scharf zurück. »Schließlich ist er meine Familie.«
    »Gutes Mädchen.« Jean Kiss schloss die Augen und lächelte, noch während sich ihr Griff um meine Fingerrüstung verstärkte. »Jolene ist nicht die Einzige, die oft an dich denkt.«

    Ich denke auch an dich, wollte ich sagen, doch in diesem Augenblick drehte sich die Welt um mich, und der Schmerz in meiner Brust flammte weißglühend auf. Mir wurde schlecht und ich konnte nicht mehr atmen, konnte auch nichts sagen. Von meinen Fußsohlen bis zu meinem Scheitel überlief ein saugendes Gefühl meinen Körper, das mich in alle Richtungen gleichzeitig zu ziehen schien. Meine rechte Hand brannte, und Licht schimmerte hinter meinen Augen. Eine dunkle Hand schüttelte mich, und zwar so sehr, dass mein Herz und meine Knochen klapperten. Sie schleuderte mich schließlich wie einen Baseball in den Abgrund. Ich wirbelte um eine Achse und stieß einen lautlosen Schrei aus.
    Bis ich - plötzlich - wieder sehen konnte.
    Ich war von Häuten umgeben.

21
    D ann befand ich mich in einem gefrorenen Raum, der aus diamantglänzendem Eis bestand. Männer und Frauen baumelten an Fleischerhaken, die in die Decke eingelassen waren, und standen in Nischen in den Wänden hinter Platten aus klarem Eis. Sie lagen auf Eistischen, nackt und der Luft ausgesetzt, die so kalt war, dass mein ganzer Körper dampfte und mein Atem weiße Wolken bildete.
    Ich selbst lag regungslos auf dem eisbedeckten Boden und versuchte zu verstehen, was ich da sah. Es gelang mir jedoch nicht. Ich wusste, dass mich meine Augen nicht belogen, aber für mein Herz…, für mein Herz war es zu viel. Die Leute, die von der Decke herunterhingen, das waren doch Kleider: Anzüge, Trainingsanzüge, Gothic-Lederkleidung, Jeans und T-Shirts. Als hätte man sie aus ihrem Leben gerissen und sofort auf Eis gelegt. Es waren etwa fünfzig, einschließlich derer auf den Tischen und in den Wandnischen.
    Verlorene Leben.
    Ein Kühlhaus, dachte ich. Mr. Koenig muss die Körper irgendwo aufbewahren, zwischen seinen Experimenten.
    Meine Brust schmerzte. Das Atmen fiel mir schwer, aber die kalte Luft half. Ich setzte mich langsam auf und zischte vor
Schmerz, mir wurde übel. Einen Augenblick lang glaubte ich, ich müsse mich übergeben - und ich krümmte mich zusammen und keuchte angestrengt. Ich starrte auf meine Hände. Die Fingerrüstung hatte sich schon wieder verändert. Das war während der letzten Sprünge passiert, aber ich hatte schon gar nicht mehr darauf geachtet, hatte mich einfach der Unausweichlichkeit ihres Wachstums ergeben.
    Mein Mittelfinger war mittlerweile vollkommen von dem Metall umschlossen, und von seinem Ende erstreckte sich eine zweite silberne Ader zu dem Armband an meinem Handgelenk. Ich krümmte die Hand, spürte jedoch nichts an der Rüstung. Sie wirkte so sehr wie meine eigene Haut, dass ich sie nicht einmal davon hätte unterscheiden können, wenn sie nicht so anders ausgesehen hätte. Verschlungene Linien waren - wie Rosen - darauf eingraviert, sowie Knoten aus Flügeln.
    Ich rollte mich auf die Seite, kämpfte mit den Bogen aus Schmerz, die mich überkamen - und schaffte es schließlich, die Knie unter meinen Körper zu ziehen, dann auch mein Bein, bis ich

Weitere Kostenlose Bücher