In Den Armen Der Finsternis
wenigstes etwas Gutes getan. Doch das war nur ein schwacher Trost dafür, dass ich den größten Teil meines Lebens allein verbringen und jung sterben sollte, ermordet werden würde. Vor den Augen meines eigenen Kindes.
Ich machte mir keine Illusionen. Vor diesem Schicksal gab es kein Entrinnen. Ich würde irgendwann eine Tochter bekommen, und dann würden mich die Jungs eines Tages ihretwegen im Stich lassen, so wie sie meinetwegen meine Mutter verlassen hatten. Wenn das eintrat, würde ich sterben. Vielleicht würde man mir in den Kopf schießen, so wie meiner Mutter auch.
Genauso wenig bestand die Chance, kinderlos zu bleiben. Mein Blut gehörte Zee und den Jungs. Mein Körper garantierte ihre Unsterblichkeit und bildete ihre einzige Verbindung zu dieser Welt. Starb ich, so würden sie ebenfalls aufhören zu existieren. Wenn ich kein Kind bekam, würden sie mit mir untergehen. Sie hatten mehr Jahrtausende überlebt, als ich mir vorstellen konnte, und einen Teil dieser Existenz hatten sie auf den Körpern meiner Urahninnen verbracht, einem Geschlecht von Frauen, das sich so weit in die Vergangenheit erstreckte, dass ich mir ihre Leben nicht einmal im Traum ausmalen konnte, jedenfalls nicht über meine Mutter und Großmutter hinaus. Letztere war eine Frau mit eisenharten
Augen gewesen, die sechs Jahre vor meiner Geburt ermordet worden war.
Mein einziger Trost bestand darin, dass sich die Jungs an mich erinnern würden, in ihren Träumen, in denen sie an Frauen dachten, die lange tot und begraben und längst zu Staub zerfallen waren. Aber das konnte meine Melancholie nicht mindern. Oder verhindern, dass ich meine Mutter vermisste, selbst jetzt noch, nachdem Grant in mein Leben getreten war.
Ebenso wenig erleichterte es mir meine Entscheidungen. Ich jagte immer noch Dämonen, und zwar hier in Seattle. Versuchte mein Bestes, um Menschen zu retten. Aber es fühlte sich irgendwie falsch an, nicht unterwegs zu sein, wie eine Sünde, ja, wie ein Verbrechen. Die in meinem Kopf allgegenwärtige Stimme meiner Mutter sagte mir, dass ich etwas unendlich Schlimmes tat, indem ich mehr als eine Nacht in einer Stadt verbrachte. Weiter, zieh doch weiter. Oder beschwöre noch mehr Schmerz herauf.
Es war schon schlimm genug, dass ich nicht wusste, was ich bezüglich des Gefängnisschleiers unternehmen sollte. Geschweige denn, dass ich gewusst hätte, wie ich verhindern sollte, dass er fiel. Oder wie ich diese Welt retten sollte. Ich hatte überhaupt keinen Plan. Und keine Antworten.
Und ich brauchte beides, und zwar schleunigst. Nicht nur, was das betraf.
Ich traf Byron in der Halle, als ich die Treppe vom Keller hinaufkam. Die Tür wurde von außen verschlossen gehalten. Mary hatte keinen Schlüssel, aber selbst der Umstand, dass das Schloss einmal im Monat ausgewechselt wurde, konnte sie nicht aufhalten. Sie war eine verdammt clevere verrückte Frau.
Der Junge lehnte an der Wand. Seine Augen wirkten kalt und dunkel, und seine zusammengepressten Lippen verrieten
seine Anspannung. Ich hatte das Gefühl, dass er schon seit einer Weile auf mich gewartet hatte.
»Da wartet ein Perverser auf dich«, begrüßte er mich.
»Okay«, antwortete ich nach kurzem Zögern. »Bring mich zu ihm.«
Er führte mich durch den verwinkelten Flur zur Lobby des Obdachlosenheims, die einmal das Firmenfoyer der Möbelfabrik gewesen war. Die altehrwürdige Eleganz zeigte sich noch in manchen Details: dem Mosaik der teuren Bodenfliesen, den dunklen Holztäfelungen und dem Buntglas in den Fenstern neben der Eichentür. Hinter einem doppelten Bogengang war ein kleines Büro zu sehen, das von der Lobby durch Schreibtische abgetrennt wurde, die am Boden festgeschraubt waren. An einem der Tische wurden Leute überprüft, die im Heim aufgenommen werden wollten, und an dem anderen machten Freiwillige Termine mit Obdachlosen, die sich um Arbeit bemühten, um Unterkünfte oder um Weiterbildungen.
Der Aufnahmeschalter öffnete erst um drei Uhr am Nachmittag, aber vor dem Hilfe-Schreibtisch scharten sich bereits etliche Menschen. Ich sah einen der Zombies vom Frühstück, der sich offenbar um eine Arbeit bemühte. Er bemerkte mich gar nicht, aber Archie Limbauds Gesicht zuckte vor meinem inneren Auge hoch und dann auch das seines Opfers, dieses kleinen verirrten Mädchen. Ich schluckte und riss meinen Blick von dem Zombie los. Ob er seinen Wirt jemals zu einem Mord gezwungen hatte?
Byron musste mir den Perversen nicht zeigen. Ich sah ihn in dem Augenblick,
Weitere Kostenlose Bücher