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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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mögen, aber einige Dinge bleiben trotzdem so, wie sie sind. Sie zum Beispiel.«
    Erneut wischte er sich den Mund mit der Krawatte ab, blieb stehen und sah mir in die Augen. Er war ziemlich klein und musste hochschauen. Dabei wippte er auf den Zehen. Ich ließ seinen prüfenden Blick ungerührt über mich ergehen, ohne zu blinzeln. Als würde das irgendeine unerträgliche Schwäche entblößen. Stattdessen musterte ich ihn meinerseits und zwang mich, ruhig zu bleiben, obwohl mein Herz wie rasend schlug. Zee schüttelte sich auf meiner Haut, die anderen Jungs auch. Sie versuchten mit aller Macht aufzuwachen, Hass wogte durch ihre Träume.
    Fetter kleiner Mann, dachte ich plötzlich, fass mich ja nicht an.
    Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, leckte sie ab. Seine gierigen kleinen Schweinsäuglein blinzelten einmal,
langsam, fast träge. Der Geruch nach Zwiebeln erinnerte mich plötzlich an Blut - und mir fiel die Vorstellung viel zu leicht, dass die Flecken um seinen Mund keine Tomatensoße waren.
    Mr. Koenig zog ein rotes Lakritzbonbon aus der Hosentasche und stopfte es sich halb in den Mund. Erneut drehte er sich um, ohne ein weiteres Wort zu sagen und ging davon, begleitet von dem Knirschen seiner Zähne, als er das Lakritzbonbon zermalmte.
    Ich blieb stehen und sah ihm nach. Dann folgte ich ihm erneut, diesmal jedoch mit einigem Abstand. Ich ließ zu, dass ein Müllcontainer zwischen uns kam, wenn auch nur einen Moment lang. Doch als ich dahinter hervortrat, war der Mann schon nicht mehr zu sehen. Er war einfach weg. Und das auf einer Straße, die vollkommen verlassen wirkte, bis auf zwei Wagen, die ein ganzes Stück entfernt parkten, und eine Reihe Maschendrahtzäune, die so wacklig waren, dass schon der nächste Regensturm sie vermutlich umwerfen würde.
    Ich sah in dem Müllcontainer nach, aber Mr. Koenig hatte sich dort gar nicht versteckt. Er war verschwunden, hatte sich in Luft aufgelöst. Und nur den Geruch nach Zwiebeln zurückgelassen.
    Ich blieb regungslos stehen und dachte darüber nach. Nach einer Minute bekam ich Gesellschaft, und zwar junge Gesellschaft. Wir schwiegen beide, bis ich die Stille schließlich mit einer Lüge brach. »Er schien nichts Besonderes zu wollen.«
    »Männer wie er«, antwortete Byron, »wollen immer irgendwas. Einige brauchen nur etwas länger, bis sie es ausspucken. Das hängt davon ab, wie viel sie dafür glauben zahlen zu müssen.« Er sah mich aus rotgeränderten Augen an. »Oder davon, wie genau sie spüren, wie sehr du darum kämpfen wirst, ihnen das, was sie wollen, nicht zu geben.«

    »Byron«, sagte ich leise.
    »Und manchmal«, fuhr er flüsternd fort, »ist es genau dieser Kampf, der sie anmacht.«

5
    I ch lebte mit Grant in der Etage über dem Obdachlosenheim. Sein Loft war ausschließlich über eine private Außentür erreichbar, und dann über eine lange Treppe, die für einen Mann, der sich kaum ohne Gehstock fortbewegen konnte, ziemlich steil war. Er behauptete aber, es wäre eine gute Übung. Na ja, wie auch immer.
    Die Tür am oberen Ende der Treppe stand offen. Goldenes Sonnenlicht drang durch die riesigen Fenster herein und erhitzte den Boden. Ich betrat das Apartment und wurde von der Wärme überflutet, in Licht ertränkt, fast so wie trockene Teeblätter, die in Wunderwasser gelegt wurden, sich dann ausdehnten, wuchsen und Düfte ausstrahlten. So wurde ich immer mehr ich selbst. Bücherregale säumten die Wände, dazwischen drängten sich Gemälde und Masken. Ein Flügel stand in einer Ecke des Raumes, neben Gitarren und einem Arbeitstisch mit halb fertiggebauten Flöten. Auch meine eigenen Habseligkeiten befanden sich hier: die Truhe meiner Mutter und ihre Lederjacke, die über der Lehne eines Sofas hing.
    Ich liebte diesen Raum. Ich fühlte mich hier auf eine Art und Weise sicher, die ich seit dem Tod meiner Mutter fast vergessen hatte. Sie war unverletzlich gewesen und sehr schwer zu töten.
Was aber nicht bedeutete, dass ich mich jemals bei ihr sicher gefühlt hätte, nicht im Herzen und auch nicht im Geist. Jedenfalls eine sehr lange Zeit nicht mehr.
    Aus dem Schlafzimmer drang Flötenmusik, hoch und süß. Es war ein Stück aus Peer Gynt . Meine Mutter hatte mich vor vielen Jahren zu einer Vorstellung von James Galway mitgenommen, und auch wenn ich nicht behaupten konnte, dass Grant diesem Künstler technisch gesehen gleichkam, so klang doch die leise Macht in jedem einzelnen Ton, den er spielte, derart wahr und rein, dass ich mich mit

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