In den Armen der Nacht
die Geschehnisse bewundernswert ruhig und gefasst, als hätte der zeitliche Abstand, den sie inzwischen gewonnen hatte, die Wirkung einer schmerzlindernden Droge. »Sie kamen in der Nacht. Meine Mutter holte mich aus dem Bett. Sie brachte mich zu Miss Landau, meinem Kindermädchen. Und küsste mich zum Abschied. Ich sah, wie mein Vater zwei Pistolen aus dem Schrank holte. Er küsste mich ebenfalls, dann drückte er meiner Mom einen Revolver in die Hand.« Tasya tat einen langen Atemzug. »Es war das letzte Mal, dass ich die beiden sah.«
Unvermittelt stürmten auf Rurik etliche Fragen ein. Er schluckte schwer, machte eine Faust in der Tasche und schwieg.
Allmählich leuchtete ihm alles ein. Jetzt kapierte er auch, woraus sie diese innere Kraft und Hartnäckigkeit bezog und weshalb Tasya sich so wunderbar verhielt, wenn es brenzlig wurde.
Und er verstand die Zusammenhänge. Die Gründe, warum es besser wäre, wenn sie nicht zusammenblieben.
»Die Varinskis … wer sonst? Es waren zweifellos die Varinskis.« Er lachte, ein kurzes freudloses Bellen. »Diese Bastarde.«
Welches grausige Schicksal hatte sie zusammengeschmiedet? Ihre gemeinsame Liebesnacht war die erste Nacht in fünf Jahren gewesen, in der er sich restlos glücklich gefühlt hatte.
»Bastarde, das kannst du laut sagen. Bastarde seit Generationen.« Tasya fixierte Rurik über den Tisch hinweg und meinte mit aufbrausender Heftigkeit: »Aber Typen, die sich in Raubtiere verwandeln? Pah, ich bitte dich! Ich war in der Ukraine und hab mir bloß noch an den Kopf gefasst: Die Menschen dort glauben allen Ernstes an diesen Mist.«
»Du bist in die Ukraine gefahren? Bist du lebensmüde?« Er sollte nicht laut werden. Er wollte auch gar nicht laut werden. »Wenn sie herausgefunden hätten, dass du noch lebst und ihnen entwischt bist …«
»Ich weiß, ich weiß.« Sie winkte ab. »Aber damals wusste ich noch nicht um die Gefahr.«
»Du hast eben mordsmäßig Glück gehabt.« Sonst hätte er sie niemals kennen gelernt.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie keinen Schimmer haben, dass ich das Massaker überlebte. Gottlob konnte Miss Landau damals mit mir fliehen und mich in Sicherheit bringen.«
»Stimmt.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Das klingt irgendwie plausibel.«
»In der Ukraine können die Varinskis tun und lassen, was sie wollen - ob sie marodieren, morden, kidnappen, foltern, vergewaltigen, es juckt niemanden. Sie kommen weder ins Gefängnis, noch stellt man sie für ihre Gräueltaten vor Gericht. Sie leben auf einem verwahrlosten Anwesen - auf mich wirkte es wie eine Art Räuberlager. Es scheint ein wahres Männerparadies zu sein.«
»Du warst in ihrem Lager?« Er kniff angestrengt die Lider zusammen, wie um die grausige Vorstellung auszublenden, was alles dort hätte passieren können.
»Ich bin vorbeigefahren.«
»Wie oft?«
»Na ja, oft genug, um ein paar ganz passable Fotos zu schießen.«
»Du hast angehalten und Fotos gemacht?« Wie jemand so dumm sein konnte, war ihm schleierhaft. Tasya musste wahrhaftig einen guten Schutzengel haben.
»Ich bin Fotografin.« Sie tat so, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. »Überall stehen Autos rum, an denen sie herumbasteln oder die einfach bloß so vor sich hin rosten und verrotten. Der Garten ist eine Katastrophe, das Gras steht meterhoch, weil sich niemand dazu berufen fühlt, mal zu mähen oder Unkraut zu jäten. Das Haus ist aus tristem Backstein, unverputzt, kein freundlicher Anstrich, nichts. Wenn sie mehr Platz brauchen, bauen sie einfach wahllos an oder stellen irgendwelche schäbigen Baracken auf. Und weißt du, was sie am Eingangstor haben?«
»Eine Sammelstelle für die Babys, die sie den bedauernswerten Frauen gemacht haben, die sie brutal vergewaltigen. Die läuten an der Pforte und geben Fersengeld. Dann nehmen die Varinskis die kleinen Jungen auf und feiern die Geburt eines neuen Dämonen.«
»Du weißt eine ganze Menge über sie.«
»Ja.« Mehr, als du ahnen kannst.
»Dann erklär mir mal eins. Wie haben sie es geschafft, diese Atmosphäre des Terrors all die Jahre aufrechtzuerhalten?«
»Indem sie der Fantasie der Einheimischen ständig neue Nahrung geben. Damit haben sie die armen Leute fest unter ihrer Knute.« Er konnte nicht einfach dasitzen
und ihr noch länger tief in die Augen sehen. Also stand er auf und läutete nach dem Zugkellner, währenddessen räumte er ihr Geschirr auf das Tablett.
»Sie foltern. Sie morden. Sie sind Killer und
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