In den Armen der Nacht
mittelalterliches Schlösschen, das nach einer stilvollen Restaurierung alljährlich Ströme von Touristen anlockte. Es überblickte die Mosel, und als sie das Innere betraten, fühlte Rurik sich um fünfhundert Jahre zurückversetzt. Die Deckenbalken in dem kühlen, dämmrigen Verkaufsraum waren so niedrig, dass er bisweilen den Kopf einziehen musste. Es roch nach vergorener Hefe und jungem Wein, eine Touristengruppe machte sich soeben lärmend abmarschfertig für eine Führung durch die Weinkeller.
»Da«, meinte Tasya. »Das ist der Typ, den wir brauchen.« Sie steuerte auf einen gesetzten älteren Herrn zu, der sich beim Anblick ihrer schwarzweißen Igelstoppel missfällig versteifte. Aber nicht lange; sie fixierte ihn mit einem strahlenden Lächeln und sprach ihn auf Französisch an, holprig, aber immerhin, und er lächelte zurück.
Kurz darauf winkte der distinguierte französische Herr sie in eine lange, menschenleere Galerie im hinteren Teil des Gebäudes. Er machte Licht und deutete auf eine Wand, bevor er sie allein ließ und wieder im Verkaufsraum verschwand.
Rurik starrte auf einen Wandläufer, der sich in Augenhöhe über die gesamte Zimmerwand erstreckte und bis zur Decke reichte.
»Grundgütiger.« Er schlenderte entlang der Samtkordel, die allzu neugierige Touristen von dem Gobelin auf Abstand hielt. »Was ist das?«
»Das ist eine Tapisserie aus dem zwölften Jahrhundert, die die Geschichte der Lorraine feiert. Die Sprache ist Lateinisch. Über die Herkunft ist wenig bekannt, außer dass der Wandbehang hier irgendwo in der Umgebung gefertigt wurde.« Tasya schlenderte hinter ihm her, die Arme auf dem Rücken verschränkt, inspizierte sie jede einzelne Szene.
»Die Leute im Touristenbüro meinten also, dass der einäugige König darauf dargestellt ist?« Rurik registrierte Ausschnitte von Kriegen und Krönungen, Textpassagen sowie eine verwirrende Vielzahl anderer Ereignisse.
»Er ist kein König«, korrigierte Tasya. »Er hieß Arnulf und war ein Warlord, genau wie Clovus. Vermutlich stilisierte Clovus ihn zum König hoch, damit seine eigene Niederlage gegen Arnulf weniger demütigend rüberkam.«
»Noch mehr PR in eigener Sache.«
»Na logo.« Sie blieb immer wieder neugierig stehen und inspizierte die kunstvoll in den braunen Leinenuntergrund eingestickten Figuren. »Eigentlich ist es ein Gobelin, und die Detailgenauigkeit ist verblüffend. Die gesamte Geschichte von Elsass-Lothringen ist hier abgebildet, einschließlich …« Sie stockte. »Da ist er. Arnulf der Einäugige.«
Rurik stellte sich neben sie vor die Absperrkordel.
Trotz seines hohen Alters befand sich der Gobelin in einem ausgezeichneten Zustand, die Leuchtkraft der Farben war ungebrochen, und man erkannte mühelos die dargestellten Figuren.
Obwohl die Szenen denen mit Clovus sehr ähnelten, fehlten Arnulf, anders als auf dem Relief in dem Felsengrab, die königlichen Insignien. Möglich, dass er mit seinem Biografen im Clinch lag. Er stand in Siegerpose vor einem Berg Leichen und hatte für diesen Machtbeweis wohl sein Auge und seinen Adelsstatus eingebüßt. Die Darstellung zeigte, wie er brandschatzend und mordend durchs Land zog, bis er eines Tages das besagte Geschenk bekam.
»Schau mal.« Tasya deutete mit dem Finger auf eine Szene.
»Ist mir auch schon aufgefallen.« Das Geschenk hatte die Form des Schokoriegels und war von einem Heiligenschein umkränzt.
»Da ist es«, flüsterte Tasya.
»Sieh mal hier. Nachdem Arnulf das Geschenk dankend akzeptiert hat, ist es aus mit seiner Glückssträhne. Er wird verwundet und muss das Bett hüten. Schätze, die Wunde infizierte sich, was?« Ein dunkles Sekret spritzte aus der Wunde, und Arnulfs Feinde scharten sich sichtlich triumphierend um sein Krankenlager.
»Geschieht ihm recht.« Tasya grinste. »Er machte das Geschenk für sein Unglück verantwortlich und ließ es demnach in einem Nonnenkloster verstecken. In der Hoffnung, dass er dadurch wieder genesen würde.«
Rurik konnte eine ganze Menge auf dem Gobelin
erkennen, allerdings verschloss sich ihm dieses Detail. »Woran siehst du denn, dass er sich dadurch Heilung erhoffte?«
»Das steht in diesem Touristenführer.« Tasya tippte grinsend auf die Broschüre.
Die Dame war schwer auf Zack. »Was machen wir überhaupt hier, wenn sowieso alles in dem Touristenführer steht?«
»Der Touristenführer lässt sich leider nicht darüber aus, wo das Kloster ist.« Sie stand vor der letzten Szene, die Arnulf den
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