In den Armen der Nacht
weiter.
Irgendwann musste es einen Erdrutsch gegeben haben. Die Höhlenmauer war mit einem Mal bröcklig wie Zwieback, und Tasya fühlte den Felsvorsprung nicht mehr, der ihr sicheren Halt gegeben hatte.
Sie konnte es nicht fassen. Das war doch nicht möglich. Sie war kilometerweit durch die Dunkelheit gelaufen - wenn sie von einer Durchschnittsgeschwindigkeit von fünf Kilometern pro Stunde ausging und mindestens acht Stunden, dann hatte sie etwa vierzig Kilometer unter diesem verdammten Berg zurückgelegt auf dem Weg in die Freiheit -, um dann hier zu enden? Sie stand mit ausgestreckten Armen da, ihre Hände griffen ins Leere. Es war unbegreiflich!
Sie konnte nicht zurück. Sie glaubte zwar nicht, dass die Varinskis sie durch den Tunnel verfolgten, sie vermutete jedoch schwer, dass sie ihr irgendwo in Ruyshvania auflauern und ihre Flucht vereiteln würden.
Sie konnte nicht weiter, weil - weil sie nicht wusste, wohin sie treten sollte. Sie ruderte mit den Armen, schwenkte sie im Kreis, versuchte, Halt zu finden - und dann gab der Boden unter ihren Füßen nach.
Sie stürzte. Einen Moment lang schaffte sie es, sich auf den Beinen zu halten und wie auf Skiern in die Tiefe zu schlittern.
Dann brach der Untergrund komplett weg, und sie stürzte in die Dunkelheit.
Boris saß an seinem Schreibtisch und starrte wie hypnotisiert auf das Telefon. Wieso klingelte das blöde Ding nicht? Er fieberte darauf, dass seine Jungs endlich anriefen, um ihm mitzuteilen, dass sie Rurik Wilder überwältigt und dass sie die Frau und die Ikone hatten.
Boris hatte dem Anderen blinden Gehorsam geleistet.
Inzwischen wusste er alles über die Frau, die Rurik Wilder bei sich hatte, diese Tasya Hunnicutt.
Folglich wusste Boris auch, dass er in echten Schwierigkeiten steckte.
Weil in irgendeinem New Yorker Verlag ein Buch publiziert werden sollte. Ein Buch über die Varinskis.
Vor hundert, vielleicht noch vor fünfzig Jahren hatten die Varinskis die Verlagsbranche fest in ihrem Griff gehabt. Sie hatten die Verleger massiv unter Druck gesetzt, wenn nötig mit Gewalt.
In den letzten drei Jahrzehnten waren jedoch immer mehr Frauen in Führungspositionen aufgestiegen, waren kompetente Lektorinnen und sogar Verlegerinnen geworden. Diese Frauen trugen Hosen und hatten Piercings in den Augenbrauen. Einige waren jung und bildhübsch.
Anfangs war es Boris egal gewesen. Was scherte ihn dieses Buch? Ein Buch mehr oder weniger - die ungeschminkte Wahrheit über die Varinskis würde ohnehin niemand glauben.
Diese Autorin hatte jedoch lückenlos über die Familie Varinski recherchiert. Sie hatte ein Buch verfasst, das ihre Geschichte, ihre Legenden und eine Chronik ihrer gesammelten Missetaten beinhaltete. Dass sie Auftragskiller waren, die gegen Bares mordeten, dass sie Spionagetätigkeiten übernahmen und im organisierten Verbrechen mitmischten. Da kam eine ganze Menge zusammen, und ihr Verleger sprach bereits von einem Bestseller. Ihre Lektorin hatte gestrahlt und die Autorin mit einem weißen Zahnpastalächeln als »den nächsten Dan Brown« angepriesen.
Falls die öffentliche Aufmerksamkeit auf die kriminelle Energie der Varinskis gelenkt würde, wäre das ein gefundenes Fressen für die Presse. Die Buchumsätze würden gigantisch hochschnellen und die negative Publicity um die Varinski-Zwillinge Boris’ sorgsam kultiviertes Familienimage des integren, lautlosen Mörders zerstören.
Und die betreffende Autorin hieß Tasya Hunnicutt.
Diese Tasya Hunnicutt war Ruriks Begleiterin, eine Journalistin, die für die National Antiquities Society tätig war. Boris war bestens informiert. Sie war nicht irgendeine hässliche Alte mit schwarzstoppeligem Damenbart. Nein, es war dieselbe Frau, die mit Rurik Wilder nach der Explosion in dem schottischen Grab verschwunden war.
Sie hatte ihrem Verleger versprochen, ihm noch vor der Veröffentlichung des Buches den sensationellen Beweis für die Geschichte der Varinskis zu liefern. Und was war passiert? Der Goldfund, die Explosion in der Grabstätte und ihr mysteriöses Verschwinden hatten für
ein Furore gesorgt, das sie bestimmt nie für möglich gehalten hätte. Die Vormittagsshows im amerikanischen Fernsehen rissen sich um sie und überboten sich darin, wer sie nach ihrem Wiederauftauchen als Erster als Gaststar in seine Sendung bekäme.
Wenn der Andere entdeckte, dass Hunnicutt über die Varinskis recherchiert hatte und sogar in der Ukraine gewesen war, wo sie Fotos von ihrem Anwesen gemacht
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